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Hexerei zur Teestunde
Sophie Love


Ein Cozy-Krimi in einem kuriosen Buchladen #1
„Der perfekte Liebesroman für den Urlaub mit dem gewissen Etwas: sein Enthusiasmus und die wunderschönen Beschreibungen bieten einen unerwarteten Blick auf die Komplexität der sich entwickelnden Liebe und der sich veränderten Psyche. Er ist eine unterhaltsame Empfehlung für Fans von Liebesromanen, die nach etwas mehr Komplexität bei ihrer Lektüre suchen.“. –Midwest Book Review (Für jetzt und für immer). HEXEREI ZUR TEESTUNDE: EIN UNHEILVOLLER BAND ist der Debut-Roman einer neuen, mitreißenden Cozy-Krimireihe der Bestsellerautorin Sophie Love, Autorin der Reihe Die Pension in Sunset Harbor, einem Nr.-1-Bestseller mit mehr als 200 Fünf-Sterne-Bewertungen… Als die 29-jährige Alexis Blair bei ihrer Arbeit in einem Verlag gefeuert wird und am selben Tag auch noch die Beziehung zu ihrem Freund in die Brüche geht, fragt sie sich, ob das alles vielleicht Zeichen sind, einen Neuanfang zu wagen. Sie beschließt, dass es an der Zeit ist, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen: ein eigener Buchladen – selbst, wenn sie dafür Boston hinter sich lassen und eine Stelle in einem kuriosen Buchladen in einer Kleinstadt am Meer, die eine Stunde entfernt liegt, annehmen muss… Doch Alexis erkennt bald, dass der sonderbare Laden mehr ist als nur ein Geschäft für seltene und magische Bücher. In dem geheimen Hinterzimmer des Ladens, mit dem exzentrischen Besitzer und in der Kleinstadt selbst geht etwas Seltsames vor sich… Und als eine Leiche auftaucht, steckt Alexis plötzlich mit ihrer geliebten zugelaufenen Katze bis über beide Ohren in der Sache drin… Dieser packende Krimi steckt voller übernatürlicher Phänomene, Rätsel, Geheimnisse und Liebe vor der Kulisse einer Kleinstadt, die genauso sonderbar und liebenswert wie der Laden ist – DER KURIOSE BUCHLADEN ist ein Roman, der Ihr Herz erwärmt und bis spät in die Nacht für gute Unterhaltung sorgt. . „Die Romantik ist spürbar, aber sie ist nicht erdrückend. Applaus an die Autorin für den gelungenen Auftakt zu einer Romanreihe, die uns Unterhaltung pur verspricht.“. –Books and Movies Reviews (Für jetzt und für immer). Buch 2 und Buch 3 in der Romanreihe —EIN TÖDLICHES MANUSKRIPT und EINE GEFÄHRLICHE SEITE – sind jetzt auch verfügbar!





Sophie Love

HEXEREI ZUR TEESTUNDE: EIN UNHEILVOLLER BAND




HEXEREI ZUR TEESTUNDE:




EIN UNHEILVOLLER BAND




(EIN COZY-KRIMI IN EINEM KURIOSEN BUCHLADEN – BUCH 1)




S O P H I EВ В  L O V E




INS DEUTSCHE ГњBERSETZT VON ANGELA LESSENIG



Sophie Love

Die Bestsellerautorin Sophie Love, ist Autorin der romantischen Komödienreihe DIE PENSION IN SUNSET HARBOR, die acht Bücher umfasst; der romantischen Komödienreihe DIE LIEBE AUF REISEN, die fünf Bücher umfasst; der neuen Cozy Mystery Serie DAS GEISTERHAFTE ANWESEN, die drei Bücher umfasst (und es werden noch mehr erwartet); und der neuen Cozy Mystery Serie EIN KURIOSER BUCHLADEN, die drei Bücher umfasst (und es werden noch mehr erwartet).



Sophie würde sich freuen, von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.sophieloveauthor.com (http://www.sophieloveauthor.com/)  um ihr eine E-Mail zu schicken, sich in die Mailingliste einzutragen, kostenlose E-Books zu erhalten, die neuesten Nachrichten zu erfahren und in Kontakt zu bleiben!



BГњCHER VON SOPHIE LOVE




EIN COZY-KRIMI IN EINEM KURIOSEN BUCHLADEN

HEXEREI ZUR TEESTUNDE: EIN UNHEILVOLLER BAND (Buch 1)


EIN COZY-KRIMI MIT HUNDESPГњRNASE CASPER

DAS GEISTERHAFTE ANWESEN: MORD ZUM FRГњHSTГњCK (Buch 1)


DIE PENSION IN SUNSET HARBOR

FГњR JETZT UND FГњR IMMER (Buch 1)

FГњR IMMER UND EWIG (Buch 2)

FГњR IMMER MIT DIR (Buch 3)

WENN ES DOCH NUR FГњR IMMER WГ„RE (Buch 4)

FГњR IMMER UND EINEN TAG (Buch 5)

FГњR IMMER UND NOCH EIN TAG (Buch 6)

FГњR DICH FГњR IMMER (Buch 7)

WEIHNACHTEN FГњR IMMER (Buch 8)


DIE LIEBE AUF REISEN

DAS FESTIVAL DER LIEBE (Buch 1)

ITALIENISCHE NГ„CHTE (Buch 2)

EINE LIEBE IN PARIS (Buch 3)

EINE LIEBE IM SCHNEE (Buch 4)

GRIECHISCHER ZAUBER (Buch 5)




KAPITEL EINS


Lex riss aufgeregt und ungeduldig an dem Paket und zerrte an den Kartonklappen, um an den Inhalt zu gelangen. Ordentlich, in zwei Reihen angeordnet, die Deckel Kante an Kante ausgerichtet, befanden sich darin die PrГјfdrucke, auf die sie gewartet hatte.

Sie nahm einen davon heraus und bewunderte ihn. Sie drehte das Buch so, dass der glänzende Schutzumschlag das Licht einfing. Es sah toll aus. Der erste Blick auf ein neues Buch war immer etwas Besonderes: Der Geruch, der den Seiten entströmte, das Auspacken, das Bewundern des Umschlages und zu sehen, wie die Designidee im Druck aussah.

Es brachte Lex immer wieder in ihre Kindheit zurГјck, zu den Momenten, wenn die Buchhandlung ihres Vaters Lieferungen neuer BГјcher zum Verkauf erhalten hatte. Sie war eifrig bemГјht gewesen, ihm zu helfen, indem sie die BГјcher aus der Kiste genommen hatte und losgerannt war, um sie in die Regale zu stellen, wo sie dann ein paar Augenblicke verweilte, um sie zu bewundern. Sie hatte immer geglaubt, dass sie eines Tages in seine FuГџstapfen treten wГјrde.

Doch diese Ausgaben waren für einen anderen Zweck bestimmt. Lex kehrte in die Realität zurück, klappte den Deckel des Bandes auf und warf einen Blick auf das Innere. Sie suchte nach Druckfehlern, Tippfehlern, Fehlern in der Ausrichtung – alles Dinge, die die Qualität eines seriösen Buches mindern könnten.

Dies war ein seriöses Buch, mit einem ernstzunehmenden Thema. Es behandelte die Entdeckungen eines Professors für Zell- und Molekularphysiologie in Yale, der die letzten zwei Jahrzehnte seiner Karriere in einer Forschungsposition verbracht hatte. Eine Autorin, die sich auf wissenschaftliche Sachbücher spezialisiert hatte, hatte sich des Themas angenommen und Lex hatte es in ihrer Rolle als Lektorin des Verlages, für den sie arbeitete, mühsam durchgearbeitet. Es verständlich zu machen, selbst für den durchschnittlichen Wissenschaftsstudenten, war eine echte Herausforderung gewesen, aber nach einem Jahr harter Arbeit war sie schließlich zum Abschluss gekommen.

Lex legte es auf einen unordentlichen Stapel von Korrekturen, Umschlag-Optionen und gebundenen Manuskripten auf ihrem Schreibtisch, bereit, sich darin zu vertiefen. Sie blätterte durch die Seiten, wobei sie den Geruch des neuen Buches genüsslich einsog und liebevoll einen Finger auf eine der Illustrationen legte. Es war ein bittersüßes Gefühl, endlich das Ende dieses Projekts zu erreichen. Von allen Manuskripten, mit denen sie sich im vergangenen Jahr beschäftigt hatte, war dies eines der anspruchsvollsten gewesen – und es verschaffte ihr höchste Befriedigung, es unter Dach und Fach zu bringen.

Trotz der Aufregung Гјber das neue Buch wanderten ihre Gedanken wieder zurГјck zu ihrem Vater. Eine Erinnerung kam ihr in den Sinn, als sie die in Kisten verpackten BГјcher betrachtete, der Duft der neu gebundenen Seiten stieg von ihnen auf und brachte etwas aus der Zeit zurГјck, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war. Das Auspacken einer neuen BГјcherkiste mit ihm war immer eine besondere Freude gewesen.

Lex drehte sich beim Klang der Stimme ihres Vaters um, die in den Regalen widerhallte. „Wo bist du, mein Engel?“, rief er.

„Science Fiction und Fantasy“, rief Lex zurück und nannte ihm damit den Namen der Abteilung, in der sie stand. Der Laden war nicht groß, aber groß genug, um verschiedene Bereiche für verschiedene Genres zu haben, und die Regale waren so dicht nebeneinander gepackt, dass es unmöglich war, jemanden auf der anderen Seite des Regals zu sehen.

Ihr Vater kam um die Ecke, groß und bärtig, wie immer mit einem Funkeln in den Augen. Sein Haar war so dunkel, dass es fast schwarz war, es war das Haar, das Lex geerbt hatte. Er streckte ihr mit einem Grinsen die Arme entgegen. „Da ist meine Buchfee“, sagte er. „Komm her. Die neue Lieferung ist da.“

„Alexis Blair, Sie sind spät dran.“

Lex sprang fast aus ihrem Stuhl und warf den Probedruck mit einem Knall auf den Schreibtisch. Mehrere Stifte, die durch den Aufprall aufgerüttelt wurden, fielen klappernd auf den Boden und rollten unter ihren Schreibtisch. Sie blickte auf und sah einen anderen Redakteur, der den Kopf durch die Tür ihres Büros streckte. In dem kleinen Raum war kaum genug Platz, um die Tür vollständig zu öffnen, ohne gegen ihren Schreibtisch zu stoßen, und sie ließ sie oft angelehnt stehen, damit etwas Sauerstoff hereinkam. Es war das kleinste Büro im ganzen Gebäude – sogar der Schrank des Hausmeisters war einen Hauch größer.

„Oh, Gott“, murmelte sie, schaute auf die Uhr und errötete. „Entschuldigung! Ich habe gerade die Lektoratsausgabe von Ein Einblick in das endokrine System erhalten. Ich habe das Zeitgefühl verloren.“ Lex zwängte sich an der Seite ihres Schreibtisches vorbei, der sich beklemmend nahe an den Regalen auf jeder Seite des Raumes befand, und folgte ihrem Kollegen in den Flur.

„Sie und Ihre wissenschaftlichen Bücher“, lachte er. Matt Lang war in der Belletristikabteilung der Bostoner Niederlassung des Fully Booked!-Verlages tätig und auf Bücher für junge Erwachsene spezialisiert. Er war einer der beliebtesten Redakteure im Gebäude. Obwohl es viele andere Redakteure gab, hatte er es geschafft, innerhalb von nur wenigen Jahren fast bis an die Spitze aufzusteigen. Es ging das Gerücht um, dass er eine der Chefredakteurinnen ersetzen würde, sobald sie in den Ruhestand ging, was nicht mehr in allzu ferner Zukunft lag.

Er war erst fГјnfundzwanzig, was Гјberhaupt nicht fair war. Lex war sieben Jahre Г¤lter als er, doch mit ihrer Karriere ging es Гјberhaupt nicht voran.

„Ich kann nichts dafür.“ Lex lächelte ihn an. Sie konnte nicht anders, trotz des Gefühls von Neid: Matt hatte echtes Charisma. „Ich bin immer so aufgeregt, wenn es ein Thema ist, das mir wirklich Spaß macht.“

„Sie haben Naturwissenschaften studiert, nicht wahr?“, rief Matt über die Schulter, während sie aus den Büros im Keller nach oben in den hellen und luftigen ersten Stock liefen. „Was war es noch mal?“

„Ich habe ein Doppelstudium absolviert, Chemie und Weltgeschichte“, korrigierte ihn Lex. Nicht, dass es sonst viel zu sagen gäbe – und er hätte es wahrscheinlich in wenigen Minuten wieder vergessen. Matt hatte die Fähigkeit, den Anschein zu erwecken, er interessiere sich für jedermann, obwohl das Einzige, was ihn interessierte, wahrscheinlich nur die Sorge war, dass seine kupferbraunen Haare so geschmeidig wie möglich fielen.

Lex steckte ihr eigenes glattes dunkles Haar unbewusst hinter die Ohren und fühlte, wie die ordentlich geschnittenen Enden gegen ihren Nacken streiften. Sie wusste nicht, warum das wichtig war. Außer natürlich, dass Matt im Büro so etwas wie ein Superstar war – während sie mehr oder weniger unscheinbar in der Menge verschwand.

Alle warteten im verglasten Konferenzraum auf sie. Sie saßen um einen ovalen Tisch herum, Notizbücher und Stifte vor sich liegend. Lex fiel sofort auf, dass sie ihres auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Ein weiterer großer Fehler. Es gab keine Möglichkeit, das jetzt zu ändern – nicht, nachdem sie die Besprechung schon so lange vertrödelt hatte.

„Ich habe sie gefunden“, sagte Matt triumphierend, als er durch die Türen mit den Stahlgriffen eintrat, und hob die Hände, als wolle er seinen Sieg feiern. Es gab ein Raunen der Anerkennung am Tisch, die meisten spielten einfach mit.

„Es tut mir so leid“, stammelte Lex, eilte herein und setzte sich hastig auf ihren Platz. „Die Korrekturen kamen gerade herein und ich wurde abgelenkt, und …“

„Schon gut, schon gut“, sagte Bryce Kowlowski, der Seniorpartner. Er war der Leiter der Akquisitionsabteilung und Lex' direkter Vorgesetzter – und er sah nicht gerade erfreut aus. Das war nicht gut, wenn man bedachte, dass er die Macht hatte, zu entscheiden, wie viele neue Autoren sie jedes Jahr aufnehmen konnte. Sie hatte ohnehin schon nur ein winziges Budget. „Nehmen Sie einfach Platz, Lex. So. Monatliche Berichte, bitte.“

„Ich fange an“, sagte Matt schmunzelnd, als er sein Notizbuch von seinem Platz rechts von Bryce aus aufklappte. „Der Start für das fünfte Buch in der Reihe Zauberschule für Trotzköpfe läuft sehr gut. Wir haben in der New York Times die Nummer eins gehalten und zwei Wochen hintereinander die Verkaufscharts von Barnes und Noble angeführt. Auch die ersten vier Bücher sind wieder in die Listen aufgenommen worden. Die Verhandlungen mit Warner Brothers für die Serie mit sieben Filmen sind fast abgeschlossen.“

„Fantastisch“, sagte Bryce und ließ seinen eigenen Stift auf den Tisch fallen, um seine Hände für einen Applaus zu heben. „Das sind tolle Nachrichten, Matt. Gut gemacht.“

Um den Rest des Tisches herum klatschten Lex und die anderen gehorsam mit. Ihr Kopf brummte und ihr wurde schwindlig bei dem Gedanken, dass sie alles aus dem Gedächtnis berichten musste. Nicht, dass es viel zu berichten gäbe – was es nur noch schlimmer machte.

„Karen, was ist mit Ihnen?“, fragte Bryce und wandte sich an die Redakteurin, die rechts von Matt saß. Sie war eine extrem schlanke Frau mit eckigen Schultern, die Lex immer an die Hexen in Hokus Pokus erinnerte, bereit, so viele Kinder zu opfern, wie nötig waren, um ihren eigenen Schönheitszauber zu sprechen. Abgesehen von ihrem ausgeprägten Bostoner Akzent.

Es war wahrscheinlich kein Zufall, dass Karen sich auf Biografien und Memoiren spezialisierte und dabei meist mit prominenten Kunden zu tun hatte. Lex hatte einmal geglaubt, dass sie alle BГјcher liebte, bis sie versucht hatte, die Titel zu lesen, die Karen Johnson in die Firma brachte.

„Es ist alles wahr, Deau hat gerade hunderttausend Exemplare überschritten“, berichtete Karen mit ihrer rauen, nasalen Stimme. Nach jeder Ankündigung machte sie eine kurze Pause in Erwartung eines Lobs, doch Bryce ermunterte sie lediglich mit einem Nicken, weiterzumachen. „Dwayne Johnson gegen den Rest der Welt wurde gerade als Biopic unterzeichnet. Wir sehen hohe Zahlen an Vorbestellungen für Kevin Hart: Kurzgeschichten, die ab dem Erscheinungstag nächste Woche auf jeder Bestsellerliste ganz oben stehen sollten.“

„Das ist unglaublich, Karen, herzlichen Glückwunsch“, rief Bryce aus und hob seine Hände für einen weiteren Applaus. „Zwei aufeinanderfolgende Bestseller – gut gemacht, erstklassige Leistung. Dies wird unsere Position als Nummer eins unter den Herausgebern von Promi-Autobiografien bestätigen. Wir sind fest entschlossen, den Kiss and Tale-Verlag dieses Jahr zu überholen.“

Die Kollegen am Tisch murmelten Glückwünsche, aber Lex konnte sich nicht dazu durchringen, mitzumachen. Es war alles so seelenlos. Sie hatte an Diskussionen teilgenommen, bei denen Promi-Memoiren abgelehnt wurden, weil die Autorin nicht genügend Instagram-Anhänger hatte – oder sie akzeptierten sie einfach, weil sie welche hatten. Es bedeutete ihr nichts. Es hatte keinen Tiefgang – kein Herz.

Lex schaltete ab, während Bryce weiter um den Tisch herumfragte, und starrte aus dem Fenster hinter ihm auf die Skyline von Boston. Es war ein klarer Tag und der Blick über die Stadt war wie immer atemberaubend – obwohl sie sich in der Zeit, in der sie dort arbeitete, bereits mehr als nur daran gewöhnt hatte. Es war ihr Zuhause, aber das Starren half nicht, ihre Nerven zu beruhigen. Sie versuchte verzweifelt, sich an die Zahlen zu erinnern, über die sie berichten musste, und wünschte, sie hätte daran gedacht, das Notizbuch mit all ihren sorgfältigen Aufzeichnungen mitzubringen. Es würde keinen großen Unterschied machen, das wusste sie. Die Zahlen waren nicht hoch, nicht im Vergleich zu den Promi-Verkäufen.

Dabei waren die Autobiografien selbst nicht einmal real, geschweige denn gut. Sie waren voll von Klatsch und Gerüchten, Hörensagen und erfundenen Geschichten, um die Berühmtheiten besser aussehen zu lassen. Sie brauchten nur jemanden „Herr X“ zu nennen oder so zu tun, als würden sie die Namen aus Gründen der Privatsphäre ändern, und schon konnten sie Geschichten erfinden, ohne dass sie jemand widerlegen konnte.

„Lex?“, fragte Bryce und holte sie aus ihren Gedanken heraus, damit sie ihren Bericht ablieferte. Sie ließ den Stift, den sie zwischen den Fingern gedreht hatte, auf den Tisch fallen, blickte auf ihre Hände hinunter und stellte fest, dass es ihr gelungen war, die Feder gegen ihren Daumen zu drücken, wodurch sich ein schwarzer Fleck dort ausbreitete. „Was ist mit Ihnen?“

Lex rutschte unbehaglich in ihrem Sitz, steckte ihren Daumen in die Handfläche und versuchte, ihn zu verbergen. Das Letzte, was sie wollte, war, dass Matt und Karen ihre Ungeschicklichkeit bemerkten und wieder anfingen, darüber zu lachen. „Pilger-Ausgaben: Das Leben in den neuen Kolonien ist in die engere Wahl für den Wolfson-Preis für Geschichtsbücher und den Nationalen Buchpreis für Sachbücher gekommen“, sagte sie und hoffte, dass Bryce sie nicht zu den Zahlen drängen würde. „Es gibt Gerüchte über einen Pulitzer für Geschichte für Postalische Belege und Migrationsmuster. Wir werden es natürlich erst wissen, wenn sie bekannt gegeben werden.“

„Und die Verkaufszahlen?“, fragte Bryce erwartungsvoll, sein Stift schwebte über seinem Notizbuch.

Lex schluckte. „Weniger als fünftausend“, gab sie zu.

„Für welche? Pilger oder Post?“

„Für alles“, sagte Lex und fühlte mehr, als dass sie hörte, wie im Raum scharf der Atem eingezogen wurde. Es war ihr bisher schlimmster Monat und die überwiegende Mehrheit dieser Verkäufe war an Bibliotheken und Schulen geliefert worden.

Bryces Blick verweilte einen Moment lang auf ihr, bevor er langsam den Kopf schüttelte und sich umdrehte, um eine Notiz zu machen. Sie wusste, dass es niedrig war. Aber auf ihrem Spezialgebiet, den wissenschaftlichen und historischen Texten, gab es selten einen großen Markt. Diese Bücher waren wichtig – so wichtig, dass sie sich auf den Tisch stellen und es herausschreien wollte, bis der Rest der Redakteure es verstand –, aber es war eine geringe Zahl von Menschen auf der Welt, die sie voll und ganz verstehen konnten, geschweige denn kaufen wollten.

Sie wusste, dass es nur der Aussicht auf die Auszeichnungen und den beeindruckenden Rezensionen zu verdanken war, dass Bryce überhaupt in Erwägung zog, ihre Abteilung nicht sofort zu schließen. Sie hatte eine Liste der besten Autoren auf diesem Gebiet mit bahnbrechenden Ansichten und Entdeckungen zusammengestellt – aber das Problem war, dass die meisten von ihnen nur ein oder zwei Bücher veröffentlichten, da die Erstellung jedes einzelnen Buches sehr viel Zeit in Anspruch nahm und sie in der Regel hoch spezialisiert waren. Wenn sie diese beeindruckenden Titel nicht weiterhin reinbringen konnte, würde sie ihre Position nicht mehr lange behalten können.

Doch während Bryce die anderen Editoren entließ, um sich wieder an die Arbeit zu machen, wusste Lex, dass sie dieses Jahr eine gute Ernte gehabt hatte. Die Bücher waren Gewinner und sie hatten das Potenzial, die Welt zu verändern, und das bedeutete schon etwas.

„Gut gemacht“, sagte Karen und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. „Ein Pulitzer.“ Lex wusste durch den kaum verhohlenen Unterton in ihrer Stimme, dass sie spottete und nicht wirklich gratulierte, aber sie streckte automatisch die Hand aus, um Karen trotzdem die Hand zu schütteln.

Zu spät erinnerte sie sich an die Tinte auf ihren Fingern und sie blickte entsetzt nach unten, um zu sehen, wie sich der schwarze Fleck auf Karen übertrug und ihre Handfläche und die Stelle bedeckte, an der Lex' Daumen gelegen hatte.

Lex wollte etwas sagen, sich entschuldigen, aber Karen hatte sich bereits mit einem hochmütigen Gackern an Matt gewandt, das offensichtlich dazu gedacht war, Lex wissen zu lassen, dass die Glückwünsche geheuchelt gewesen waren. Während sie das tat, wischte Karen mit der gleichen Hand unter ihrem Auge durch, als wolle sie Tränen der Heiterkeit entfernen. Ein schwarzer Pandabär-Augenstrich erschien über ihrem sorgfältig aufgetragenen Make-up.

Lex biss sich auf die Lippe. Der Stift war ein Marker, den ihre Autoren für Unterschriften verwendeten – dauerhaft und nur schwer wieder von der Haut zu entfernen. Sie tat so, als müsste sie ihren Stuhl fester unter den Tisch schieben, damit sie Karen nicht ins Gesicht lachen würde, und auch, damit sie weit genug weg war, um nicht verdächtigt zu werden, wenn jemand Karen darauf aufmerksam machte.

„Lex“, sagte Bryce, seine Stimme war leise, obwohl sie nun die einzigen Personen waren, die sich noch im Konferenzraum befanden. „Können Sie mich in mein Büro begleiten?“

Lex fühlte, wie ihr Herz beim Klang seiner Stim me in den Magen rutschte, und es dauerte noch einige Augenblicke, bis sie ihren Körper, der plötzlich mit Blei gefüllt zu sein schien, davon überzeugte, sich vom Tisch umzudrehen und ihm zu folgen.


***

„Schauen Sie“, sagte Bryce, während er Lex über die Fläche seines eigenen Schreibtisches hinweg ansah. Er war mit Bildern seiner Kinder vollgestellt, aber hinter ihm befand sich eine Wand mit gerahmten Auszeichnungen und Urkunden, sogar mit Titelseiten von Zeitschriften. Er hatte eine lange und erfolgreiche Karriere hinter sich. „Es ist nicht so, dass ich Ihre Bücher nicht wichtig finde.“

Was Gesprächseröffnungen betraf, so schien diese nichts Gutes zu verheißen. „Selbstverständlich sind sie wichtig“, sagte Lex und fühlte sich sofort in die Defensive gedrängt. „Sie verändern die Welt. Sie prägen die Geschichte. Die Forschungen des Professors über das endokrine System werden wahrscheinlich noch jahrzehntelang an medizinischen Fakultäten gelehrt werden.“

„Ja, aber die Sache ist die“, sagte Bryce und schob seine moderne Brille mit dem schweren Gestell ein wenig höher, „Sie verkaufen sich einfach nicht sehr gut. Ich habe mit den anderen Partnern darüber gesprochen und in Ihrem Namen Lobbyarbeit betrieben, aber sie halten es einfach nicht für richtig, dass Fully Booked! weiterhin Verluste hinnehmen muss – selbst wenn es die Welt verändern sollte.“

Lex sah ihn einen Moment lang an, kaum in der Lage zu begreifen, was er sagte. „Was ist mit den Auszeichnungen?“, fragte sie. „Die Rezensionen? Sie lassen das Unternehmen gut aussehen, bringen uns in die Zeitungen …“

„Leider lassen sie uns nur für andere akademische Autoren und Verleger gut aussehen“, sagte Bryce. Sein Mund war eine bedauernde Linie, die sich an den Rändern nach unten wölbte.

„Aber Benzin aus Pilzen herstellen war absolut bahnbrechend für sein Gebiet und es war so beliebt …“

„Leider ist sein 'Gebiet' – die realistischen Kapazitäten für den Anbau anaerober Pilze als Biokraftstoffquelle – extrem klein. Es wurden nur fünfhundert Exemplare verkauft.“ Bryce seufzte. „Es tut mir wirklich leid, Lex. Sie sind eine gute Redakteurin. Sie haben ein Auge dafür. Es ist nur so, dass die Art von Büchern, mit denen Sie handeln, so erstaunlich sie auch sind, sich einfach nicht verkaufen.“

Lex versuchte, klar zu denken, schüttelte leicht den Kopf und versuchte, zu entschlüsseln, was das alles zu bedeuten hatte. „Was … was für Bücher soll ich … welche Art von Büchern soll ich dann reinbringen?“

Bryce bewegte sich unbehaglich, seine Hände falteten sich auf dem Tisch in der Nähe ihrer Hände übereinander, als ob er dem Drang widerstehen wollte, ihre Hand zu nehmen. „Es tut mir leid, Lex“, sagte er erneut. „Wir gehen in eine ganz andere Richtung. Ganz weg vom Sachbuch, abgesehen von den Memoiren. Ich möchte, dass Sie mit Karen bei den Prominenten-Autobiografien zusammenarbeiten.“

Lex starrte ihn stumm an, die Worte drangen in ihre Ohren, aber nicht in ihr Verständnis. Der Boden fühlte sich an, als ob er unter ihr nachgäbe. Wie konnte er glauben, dass sie in Karens Abteilung arbeiten könnte?

„Das kann ich nicht tun.“ Lex schluckte, ihre Kehle war plötzlich staubtrocken. „Ich kann nicht mit Prominenten arbeiten.“

„Lex, ich glaube, Sie verstehen das nicht“, sagte Bryce. „Das steht nicht zur Debatte. Ihre Abteilung wird nicht mehr existieren und es gibt nur noch eine Abteilung mit einer offenen Stelle. Sie gehen zu den Prominenten.“

Lex wusste irgendwo tief in ihrem Inneren, dass sie diesen Job brauchte. Dass sie in Schwierigkeiten geraten würde, wenn sie ihn verlieren würde. Dass sie vielleicht auch ihre Wohnung verlieren würde und vielleicht im Alter von zweiunddreißig Jahren wieder bei ihrer Mutter einziehen müsste. Aber darüber hinaus sprudelte aus ihrem Herzen die Gewissheit, dass sie dies unmöglich tun könnte.

„Wie kann ich an diesen Büchern arbeiten?“, fragte sie verzweifelt. „Sie wissen, dass ich das nicht tun kann. Als ich das erste Mal hierherkam, wollte ich für Sie arbeiten, weil Sie große literarische Werke veröffentlicht haben. Echte Bücher. Dinge, die einen Unterschied machten.“

„Ich weiß.“ Bryce seufzte, rieb sich die Augen und sagte: „Ich weiß. Die Dinge haben sich in der Verlagswelt verändert. Wir müssen mit E–Books konkurrieren und das ist es, was sich im Moment verkauft. Den Leuten über mir geht es nicht um literarisches Können, sie schauen auf die Zahlen.“

„Das kann ich nicht tun.“ Lex blickte auf ihre Hand, die schwarze Tinte auf ihrem Daumen. Irgendwie erinnerte sie sich in diesem Moment an ihren Vater, der Preisetiketten für Bücher handgeschrieben hatte. Er hatte alles in seinen Traum gesteckt, eine Buchhandlung zu führen. Als er das Geschäft verloren hatte, hatte sich alles geändert. Verlorene Träume, das Scheitern – es gab Schicksale, die schlimmer waren als der Verlust des Arbeitsplatzes. „Ich weiß, die Leute werden mich für verrückt halten, weil ich das sage, aber ich kann nicht nur auf die Zahlen schauen. Ich brauche diesen Job, dieses Gehalt … das brauche ich wirklich. Aber hier zu bleiben, hier unter diesen Umständen zu arbeiten … Ich kann es nicht tun. Nicht um den Preis, den Teil des Jobs zu verlieren, den ich liebe.“

„Tun Sie das nicht“, sagte Bryce und schüttelte den Kopf. „Sie haben so lange daran gearbeitet, diesen Job zu bekommen. Gehen Sie jetzt nicht.“

„Es tut mir leid“, sagte sie und hörte die Worte aus der Ferne kommen, als ob jemand anderes sie sagen würde. „Ich bin Ihnen so dankbar für alles, was Sie für mich getan haben – die Unterstützung, dass Sie hinter mir gestanden haben, als die Verkaufszahlen niedrig waren. Aber ich werde kündigen müssen.“

Bryce starrte sie an, sein Mund klappte weit auf. Lex konnte nicht sagen, dass sie Гјberrascht war. In der ganzen Zeit, in der sie bei Fully Booked! arbeitete, hatte sie noch nie etwas so Gewagtes getan wie das.

„Ich werde Ihnen ein Empfehlungsschreiben geben“, sagte er schließlich.

„Das ist lieb“, sagte Lex und lächelte dabei abwesend. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass ich wieder einen Job wie diesen finden werde. Niemand will einen Sachbuchredakteur mit einer Bilanz von schlechten Verkaufszahlen und obskuren Titeln. Sie haben recht, der Markt hat sich verändert. Vielleicht ist es auch für mich an der Zeit, mich zu ändern. Mir selbst treu zu sein und zu sehen, wohin mich das führt.“

„Ich würde Ihnen die Hand schütteln“, sagte Bryce mit einem etwas dünnen Lächeln, „Aber ich möchte nicht Gefahr laufen, für die nächsten zwei Stunden Tinte von meinen Fingern abwaschen zu müssen.“

Lex lachte halbherzig, hob ihre eigene Hand hoch und enthüllte die Tinte, die er schon entdeckt hatte. „Es war eine gute Zeit“, sagte sie.

„Das war es.“ Bryce sackte in seinem Stuhl zurück und sah enttäuscht aus. „Ich wünsche Ihnen Glück bei, was auch immer Sie jetzt tun wollen.“

Irgendwie schaffte es Lex mit mechanischen Bewegungen von dem Stuhl aufzustehen, ihn ordentlich zum Schreibtisch zu schieben und sich dann zur TГјr zu drehen. Nichts fГјhlte sich in diesem Moment ganz real an.

„Ihre Kündigung ist sofort wirksam“, sagte Bryce schnell und hob den Kopf, um ihr nachzurufen, bevor sie gehen konnte. „Das ist Firmenpolitik in einer Situation wie dieser. Karen wird sich darum kümmern, Ihre aktuellen Bücher fertig zu bearbeiten und sicherzustellen, dass wir alles für Ihre Autoren tun werden, was wir können. Sie werden Ihr Gehalt noch für weitere vier Wochen erhalten, aber wir können Sie nicht wiedereinstellen. Datenschutz und Zeitpläne und all das. Das riskieren sie nicht gern.“

Lex starrte ihn noch einmal einen Moment lang an, ihre Hand lag auf dem Türgriff. Er sah nicht unfreundlich aus. Tatsächlich schien es ihm leid zu tun, das sagen zu müssen. Ein wilder Einwand erhob sich in ihr, dass man ihr nicht einmal genug Zeit geben würde, sich zu verabschieden, aber wenn sie darüber nachdachte, dann waren nicht viele Leute hier, die sie wirklich ihre Freunde nennen würde. Bryce war immer nett zu ihr gewesen und hatte sie unterstützt. Aber das war alles nun vorbei.

Sie drehte sich um und ging wie betäubt in ihr Büro zurück. Sie überlegte benommen, dass sie irgendwo eine Kiste finden müsste, um ihre Sachen einzupacken, und fragte sich, was sie jetzt wohl tun würde.




KAPITEL ZWEI


Lex lehnte sich an den TГјrrahmen, sie fГјhlte sich mГјde und ausgelaugt von den Ereignissen des Tages und der Fahrt durch halb Boston. Als sich die TГјr Г¶ffnete, fiel sie beinahe in die Wohnung und in die Arme des Mannes, der seit sechs Monaten ihr Freund war, Colin. Er trug ein Grinsen auf seinem sommersprossigen Gesicht, als er sie begrГјГџte, aber es verblasste schnell, als er ihrem Blick begegnete.

„Lexie? Was ist los?“, fragte er.

Sie seufzte, ließ den Kopf hängen und blickte für einen Moment auf den Teppich, bevor sie antwortete. „Ich habe meinen Job verloren. Kann ich reinkommen?“

Colin trat sofort zur Seite und ließ sie vorbei, schloss die Tür hinter sich, kam zu ihr und umarmte sie. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, ihre Nase füllte sich mit dem Patschuli-Geruch seiner Kleidung, der immer einen Nies- oder Hustenreiz bei ihr auslöste. Ihr Kopf zuckte instinktiv zur Seite in dem Versuch, genug Platz zu bekommen, um unparfümierte Luft zu atmen. Colin trat zurück und nahm dies offensichtlich als Zeichen dafür, dass sie mit der Umarmung fertig war.

„Ich dachte, du warst reif für eine Auszeichnung“, sagte er und führte sie durch die Diele, damit sie sich auf sein Sofa setzen konnte. Es war übersät mit Exemplaren einer Zeitschrift, über ungelöste Rätsel und Verschwörungstheorien, die er abonniert hatte, und sie schob ein paar von ihnen beiseite, um einen Platz freizumachen.

„Das Buch, nicht ich“, korrigierte Lex ihn. „Und das ist es immer noch. Anscheinend verdiene ich ihnen aber nicht genug Geld.“

„Ach, Liebes“, sagte Colin, zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf, als er sich neben ihr auf die Couch sacken ließ. Sein widerspenstiges braunes Haar rutschte ihm dabei in die Augen. „Es tut mir leid. Willst du eine Pizza und ein paar Bier, einen schrecklichen Film ansehen und dich später vielleicht bei mir ausweinen?“

Das zauberte endlich ein Lächeln in Lex' Gesicht. Er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass Wohlfühlessen und schlechtes Kino ein zuverlässiges Heilmittel für fast alle ihre Leiden waren. „Klingt großartig“, stimmte sie zu und wollte den Tag zumindest positiv beenden.

Colin grinste, lehnte sich dann zu ihr herüber und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Ich hole die Karte.“

Während er seine Küchenschubladen durchsuchte, hob Lex ein offenes Magazin vom Kaffeetisch auf und seufzte. Es enthielt einen Artikel über die neuesten alternativen Geschichtssendungen, die auf Streaming-Diensten verfügbar waren, und Colin hatte einen davon mit rotem Stift eingekreist: Hitlers Tod: Mythos oder Realität? Lex warf das Magazin angewidert beiseite, sie hatte für einen Tag genug Unsinn gehört.

Stattdessen nahm sie die Fernbedienung in die Hand und begann, den Abschnitt mit den Verfilmungen durchzublättern, um einen Film zu finden, den sie sich ansehen wollte. Sie fand viele Titel, die sich gut anhörten, aber diese wollte sie lieber an einem anderen Tag ansehen, an dem sie sie eher zu schätzen wüsste. Am Ende entschied sie sich für ein Buch ohne Tiefgang für junge Erwachsene, das im letzten Jahr verfilmt worden war – glücklicherweise nicht eine von Matts Veröffentlichungen.

„Willst du das Übliche, Lexie?“, rief Colin von der Tür aus und hielt sein Handy ans Ohr. „Ich hole auch einen Becher Eiscreme für später.“

„Das Übliche ist gut“, stimmte Lex zu. Es war nichts Falsches daran, zu wissen, was man wollte. Eine bequeme Routine hatte noch nie jemandem geschadet und sie brauchte Trost. „Hast du Der Rebellenspieler gesehen?“

„Ja, aber es macht mir nichts aus, ihn noch einmal zu sehen“, sagte Colin und hielt dann eine Hand hoch, als er verbunden wurde. „Hallo? Ja, ich möchte eine Bestellung aufgeben …“

Lex ließ ihre Gedanken schweifen, während Colin die Bestellung durchgab. Ihre Augen wanderten durch den vertrauten Raum und verweilten auf der Figur einer Eule, die schon so lange in Colins Bücherregal stand, wie sie ihn kannte. Sie trug nun einen Hut aus Alufolie, er war winzig, passte aber perfekt. Lex hielt ein Glucksen zurück. Auch wenn er an viele verrückte Theorien glaubte, hatte Colin auch einen Sinn für Humor. Er musste ihn nach ihrem letzten Streit aufgesetzt haben, in dem sie ihm vorgeworfen hatte er sei kurz davor, einen Aluhut zu brauchen (ein Streit, der in Gelächter endete, als Colin ihr in einem ernsten Tonfall mitteilte, dass Alufolie wahrscheinlich Signale verstärken würde, die man vielleicht eher ausblenden wollte).

Dennoch war es nur ein weiterer Streit gewesen, einer von vielen. Er konnte so hartnäckig sein. Lex fragte sich, ob sie in der Lage sein würde, einen weiteren Streit zu ertragen.

„Es wird in zwanzig Minuten hier sein, Schatz“, sagte Colin, als er wieder hereinkam, um seinen Platz neben ihr auf dem Sofa einzunehmen. Er legte ihr seinen gebräunten Arm um die Schultern und zog sie an sich. „Es wird alles gut werden.“

Er legte seine Füße auf den Couchtisch, begann, an dem Bier zu nippen, das er mitgebracht hatte, und drückte ihr auch eins in die Hand. Er drückte auf „Play“ im Film und lehnte sich zurück, seine Aufmerksamkeit richtete sich nun vollends auf den Bildschirm.

Lex kuschelte sich an ihn, aber sie schaute nicht auf den Film, sondern auf ihr Spiegelbild, das immer dann zu sehen war, wenn der Bildschirm dunkel genug war. Colin, der fröhlich sein Bier trank und über die Handlung grinste. Sie selbst, ihr dunkles Haar, in der Spiegelung fast unsichtbar, ging am Hals in die Bluse mit schwarzem Kragen über, die sie bei der Arbeit getragen hatte. Ihre Lippen waren von der Anspannung zusammengepresst, ihre braunen Augen klein, die Lider schwer vor Müdigkeit. Sie sah erschöpft und niedergeschlagen aus.

Colin hingegen betrachtete den Film mit völlig unbeschwertem Vergnügen. Sie wusste, dass es das war, was sie sich gewünscht hatte, aber irgendwie ärgerte es sie ein wenig, dass ihm die Tatsache, dass sie ihren Job verloren hatte, nicht das Geringste auszumachen schien. Er hätte ihren Arbeitgeber verfluchen können, überlegte sie. Oder ihr helfen, ein Stellengesuch einzurichten, damit sie etwas Neues finden konnte. Irgendetwas, alles, nur nicht, es unter den Teppich zu kehren, als hätten sie über nichts Ernsteres gesprochen, als das Wetter.

Es war allerdings auch nicht so, als gäbe es wirklich etwas, worüber sie sich beschweren könnte. Er war nett und unterstützte sie und redete ihr kein schlechtes Gewissen ein, weil sie ihren Job verloren hatte. Das war schon etwas. Viele Männer hätten in der Situation anders reagiert. Sie zwang sich, sich zu entspannen, lehnte den Kopf an seine Brust und versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren.

Die Pizza kam selbstverständlich mitten in einer Schlüsselszene. Lex und Colin stöhnten gleichzeitig laut auf und lachten dann, als Lex nach der Fernbedienung griff, um den Film anzuhalten. Er rannte hinunter in die Eingangshalle, um sie vom Pizzaboten in Empfang zu nehmen, und kam gerade zurück, als Lex ein paar neue Biere aufmachte.

„Es riecht so gut“, sagte er und legte die Schachtel auf den Kaffeetisch.

Lex stellte die Biere neben der Pizza ab, klappte den Deckel der Schachtel auf und streckte die Hand aus, um das erste Stück mit dem köstlichen geschmolzenen Käse zu nehmen, das noch so heiß war, dass es dampfte. „Was du nicht sagst“, sagte sie, atmete tief ein und nahm einen Bissen. Der Geschmack explodierte in ihrem Mund: heißer, fettiger Käse auf Tomate, perfekt gebackener Teig und ein saftiges Stück Champignon, alles zusammen in einem Bissen.

Colin drückte auf „Play“ und lehnte sich zurück, beide aßen mit dem Kopf über der Schachtel, eine Hand schwebte unter jeder Scheibe in der Luft, um etwaige verirrte Krümel aufzufangen.

Der Film war alles andere als originell und nicht ganz so fesselnd, wie Lex es sich gewünscht hätte, aber immerhin war es die Ablenkung, die sie wollte. Sie beobachtete die Teenager-Heldin mit einem Augenrollen – konnte das Mädchen nicht schon erkennen, dass sie in etwas Magisches verstrickt war? Die Figuren in solchen Geschichten schienen immer so dumm zu sein. Sie fanden nie heraus, was los war, bis sie jemand mit der Nase darauf stieß. Sie brachten sich selbst in die gefährlichsten Situationen.

Lex überlegte, dass eine Buchadaption vielleicht nicht die beste Filmwahl gewesen war. Letztendlich dachte sie nur an die Handlung und die Struktur – mit anderen Worten: an die Arbeit. Nicht, dass es noch ihre Arbeit war. Was würde sie jetzt tun? Was sie zu Bryce gesagt hatte, stimmte: Verlage neigten nicht sehr oft dazu, Stellen für hochgradig genrespezifische Redakteure auszuschreiben.

„Weißt du“, sagte Colin, als er den letzten Bissen eines seiner Stücke beendete, „Er sieht nicht einmal so aus, ernsthaft.“

Lex lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Bildschirm und sah eine Ansicht der Erde aus dem Weltraum. Sie runzelte die Stirn und fragte sich, was sie verpasst hatte. „Wie meinst du das?“

„Der Planet. So ist er nicht. Er ist eigentlich flach.“

Lex starrte ihn an, ihr drittes Stück Pizza schwebte in der Luft vor ihrem Mund. „Nein, das ist er nicht.“

„Doch, das ist er.“ Colin drehte sich ihr voll zu, ein sicheres Zeichen dafür, dass er im Begriff war, sich auf eine eingehende Diskussion über etwas einzulassen, von dem er dachte, sie müsste es wissen. Er hatte wahrscheinlich auf einen Vorwand gewartet, um darüber zu sprechen. „Ich habe mich darüber informiert. Es ist eine riesige Verschwörung. Uns allen ist erzählt worden, dass die Erde rund ist, und wir haben all diese falschen Bilder, die angeblich aus dem Weltraum kommen sollen. Es ist nicht real. Und die Wissenschaft bestätigt das. Die Erde muss flach sein.“

„Colin“, sagte Lex betont ruhig, obwohl sie kaum fassen konnte, dass sie dieses Gespräch überhaupt führte. „Hör mir zu. Diese �Flacherdler’ sind Idioten. Nichts von all dem ist wahr.“

„Schau zum Horizont“, sagte Colin, wobei er lebhaft mit den Händen gestikulierte. „Er sollte eine Kurve zeigen, wenn die Erde rund ist, oder? Wenigstens eine leichte? Aber das tut er nicht. Er ist immer gerade. Sie haben Experimente gemacht und es stellte sich heraus, wenn man eine gerade Linie über die Erde misst – sie krümmt sich nicht. Sie ist völlig flach.“

„Nein, sie …“ Lex holte tief Luft und bemühte sich, ihn nicht anzuschreien. Ausgerechnet heute war nicht der Tag, an dem ihre Geduld auf die Probe gestellt werden sollte. „Colin. Man kann die Krümmung der Erde mit bloßem Auge nicht sehen, weil die Erde riesig ist. Außerdem haben Menschen die Krümmung gemessen und sie ist da. Man kann nicht einfach all seine Informationen aus Flat Earth-Foren beziehen. Schlag es richtig nach – viele Menschen haben es auf so viele Arten widerlegt. Ich zeige es dir sogar – schau mal hier, ich suche es auf meinem Telefon – Fotos, die die NASA von der ISS aus gemacht hat. Siehst du?“

„Oh, Lexie, du bist auch darauf reingefallen“, sagte Colin und griff mit einem Ausdruck voller Mitgefühl nach ihrer Hand. „Das ist es, was sie uns glauben machen wollen, weißt du? Denn es gibt wirklich wertvolle Materialvorkommen am Rande der Erde. Kurz bevor sie ins Weltall abfällt, gibt es Minen, mit denen die Regierungen der Welt ihr ganzes Geld verdienen. Sie wollen nur nicht, dass wir davon erfahren, damit sie den ganzen Reichtum kontrollieren und uns sagen können, was wir tun sollen. Alle Fotos sind gefälscht – niemand ist jemals im Weltraum gewesen. Ich zeige dir ein paar Webseiten. Man muss einfach die Augen öffnen und die Wahrheit erkennen.“

Lex riss ihre Hand aus Colins Griff und ließ das Stück Pizza, das sie gerade angebissen hatte, wieder in die Schachtel fallen. „Weißt du was, Colin“, sagte sie. Für sie war es ein langer Tag in einer Reihe von langen Tagen gewesen und jetzt versuchte er, ihr etwas zu erklären, dass sie allein schon durch ihre Arbeit besser verstand als er. „Meine ganze Arbeit dreht sich um Wissenschaft und Geschichte. Und du denkst, ich wüsste es nicht, wenn die Erde flach wäre?“

Colin runzelte die Stirn. „Ich denke nur, dass du es verdienst, die Wahrheit zu erfahren, anstatt wie der Rest der Schafe herumzulaufen. Du hast mir nicht geglaubt, was die gefälschten Mondlandungen betrifft, oder die Echsenmenschen, die den Planeten beherrschen und uns kontrollieren, oder die Illuminaten und ihre geheimen Botschaften! Du bist so engstirnig! Ich weiß nicht, ob ich mit jemandem eine Beziehung führen kann, der einfach nicht offen für die Wahrheit ist“.

Lex schüttelte ungläubig den Kopf. Colins Worte waren wahrscheinlich eine leere Drohung – eine Drohung, die sie normalerweise veranlasst hätte, einen Rückzieher zu machen und stattdessen zu versuchen, ihn zu beruhigen. Aber wozu? Damit er das nächste Woche und die Woche danach einfach wieder tun konnte? „Ich habe keine Geduld mehr für solchen Unsinn“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Colin, denn er hörte offensichtlich sowieso nicht zu. „Ich kann das nicht mehr tun. Das war's. Mir reicht's! Ich habe genug!“

Sie stand vom Sofa auf und packte im Vorbeigehen ihre Tasche, die neben der Tür stand. Eine kalte Wut erfüllte sie – Wut, die durch die Entlassung und Karens Selbstgefälligkeit und Colins Unempfindlichkeit und den ganzen Rest geschürt worden war, und die sie nun mit einem gewaltigen Energieschub vorwärtstrieb.

„Lexie, Schatz, wohin gehst du?“, rief Colin. Er klang nicht besorgt oder verärgert – eher gleichgültig. Als glaubte er nicht, dass sie wirklich gehen würde. Hinter ihm lief der Film noch, völlig vergessen. Sie wusste, dass er ihr nicht zugehört hatte, nicht wirklich.

„Ich gehe nach Hause“, schrie Lex ihr über die Schulter. „Und ich komme nicht zurück. Ich bin fertig mit dir, Colin. Versuch nicht, mich noch einmal anzurufen.“

Sie trat aus der Wohnung heraus und schlug die Tür hinter sich zu, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Mit einem Gefühl der Erleichterung lief sie den Korridor und dann die Treppe hinunter. Obwohl sie in ihrem Inneren wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, blieb immer noch eine Frage im Hinterkopf: Jetzt, wo sie es geschafft hatte, an einem Tag sowohl ihre Karriere als auch ihre Beziehung zu beenden, was könnte da noch schiefgehen?




KAPITEL DREI


Aufgeregt lief Lex schnell auf ihren Vater zu und dieser hob sie schwungvoll hoch, um sie nach hinten in den Laden zu tragen. Hinter der groГџen, dunkelrot lackierten Holztheke befand sich eine TГјr, die zur AuГџenwelt fГјhrte, wo eine Palette mit Kisten wartete.

„Vorsicht“, sagte ihr Vater und hielt seine Hand schützend über ihren Rücken, als er sie absetzte und ein Taschenmesser hervorholte. Sorgfältige und präzise Schnitte lösten das Klebeband von jeder Kiste, eine nach der anderen, und dann stellte er eine auf den Boden, sodass Lex sie leicht erreichen konnte.

Lex tauchte eifrig ein und zog ein nagelneues Exemplar eines Buches mit dem Bild einer Königin in einem Tudorkleid heraus, die von einem Dornenmotiv umringt war.

Ihr Vater fragte: „Wo kommt das hin, mein Engel?“, und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Historische Romane“, verkündete Lex, ihre Hände suchten schon, um die beiden anderen Bände des gleichen Buches aus der Kiste zu holen.

„Gut gemacht. Räum sie weg und ich fange mit diesen hier an“, sagte er und strich ihr zärtlich übers Haar.

Lex grinste und rannte durch die Regale zurück, einen Weg, den sie im Dunkeln mit geschlossenen Augen finden würde. Das war ihre Welt: die hoch aufragenden Regale, der Geruch der neuen Bücher, die verwitterten und abgenutzten Seiten der Secondhand-Abteilung, die alphabetisch und nach Genres geordnet waren, die besonnene Stille der Kunden. Ihr Vater war immer einen Schritt hinter ihr, zeigte ihr die besten Titel, führte sie in schöne neue Welten ein …

Sie stellte die Bücher ins Regal und drehte sich um, aber ihr Vater war nicht mehr im Hinterzimmer. „Papa?“, rief sie, ihre Stimme hallte seltsam an einem Ort ohne menschliches Leben wider. „Papa? Wo bist du?“

Lex wachte auf und fühlte, wie ein Schauer durch ihren Körper lief. Sie schwitzte, die Erinnerung an den Traum wiederholte sich immer wieder in ihrem Kopf. Wie sie instinktiv gewusst hatte, dass ihr Vater weg war.

Weil er tatsächlich weg war, nicht nur im Traum, auch im wirklichen Leben. So idyllisch ihr das Leben als Kind auch erschienen war, sie hatte keine Ahnung gehabt, was sich hinter den Kulissen abgespielt hatte. Keine Ahnung, dass ihre Eltern sich stritten, dass das Geld knapp war, dass die Gewinnspannen beim Verkauf nicht hoch genug waren. Langsam, im Laufe von ein paar Jahren, war die Abteilung für Secondhand-Bücher gewachsen, bis der ganze Verkaufsraum aus gebrauchten Büchern bestanden hatte, eine Verkaufsstrategie, von der ihr Vater wohl geglaubt hatte, dass sie den Laden retten würde.

Lex erinnerte sich daran, wie sie zwischen diesen Regalen entlanggeschlendert war und sie sogar noch mehr geliebt hatte. Die gebrauchten Bücher hatten einen ganz anderen Geruch, einen Geruch von altem Papier und Leben. Jedes von ihnen hatte seine eigene Geschichte und Vergangenheit – nicht nur den Text auf der Seite, sondern das Leben des Buches selbst. Widmungen, die mit Bleistift oder Feder in die Einbände gekritzelt waren. Die Ränder der Seiten gut abgegriffen, zerknittert oder zerrissen, gelegentliche Anmerkungen am Rand. Die Knitterfalten auf dem Buchrücken, die bezeugten, dass das Buch immer wieder gelesen, geliebt und in einer Tasche herumgetragen worden war.

Es war magisch gewesen, bis es das eines Tages nicht mehr war. Der Laden ging pleite und ihre Eltern setzten sich mit ihr zusammen, um ihr an einem dunstigen Sommernachmittag, als es sich so angefühlt hatte, als könne nichts ihr Glück trüben, zu sagen, dass sie sich scheiden ließen.

Lex hatte mit ihrem Vater gehen wollen. Aber sie war bei ihrer Mutter geblieben, während ihr Vater in einem Motel wohnte, auf der Suche nach einer neuen Wohnung, die er dauerhaft mieten wollte. Und dann, eines Tages, hatte er ausgecheckt und war nie wieder zurückgekehrt.

Lex hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen.

Es war ein alter Schmerz. Lex war jetzt zweiunddreißig und die glücklichen Erinnerungen an den Laden betrafen nur einen kleinen Teil ihres Lebens. Es war längst vorbei. Als Teenager hatte sie versucht, ihren Vater zu suchen – als sie auf dem College war, kurz nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatte. Sie hatte nie eine Spur gefunden und irgendwann hatte sie aufgehört zu suchen.

Lex schwang ihre Füße aus dem Bett, ging in die Küche ihrer kleinen Wohnung, holte ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser. Der Traum blieb in ihrem Gedächtnis haften und das nicht nur wegen der Emotionen, die er geweckt hatte.

Fast seit dem Tag, an dem das Geschäft geschlossen wurde, hatte sie einen Traum: eines Tages eine eigene Buchhandlung zu eröffnen und damit in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Nachdem er verschwunden war, entwickelte sie eine Fantasie, in der er erfuhr, dass sie ihren eigenen Laden eröffnet hatte, und zurückkehrte, um sich ihr anzuschließen, um mit ihr zwischen den Regalen zu arbeiten, so wie sie es getan hatten, als sie ein Kind war. Dieser Teil davon war nur Wunschdenken, aber der Ehrgeiz war ihr geblieben.

Ursprünglich war sie nur ins Lektorat eingestiegen, um den Büchern nahe zu sein. Sie wollte etwas über den Markt lernen, wollte verstehen, was sich verkaufte und was nicht. Sie dachte, das würde ihr helfen, dachte, dass sie auf diese Weise auch nützliche Kontakte hätte, wenn sie bereit wäre, sich selbständig zu machen. Aber irgendwann war sie von einer Assistentin zur Junior-Redakteurin befördert worden, und dann hatte sie ihr eigenes Büro bekommen – so klein es auch war – und sie hatte den Traum in Vergessenheit geraten lassen.

Lex trank ihr Wasser aus, drehte das Glas auf dem Abtropfbrett um und schaute aus dem Fenster in die Nacht, ohne wirklich etwas zu sehen. Warum hatte sie diesen Traum aufgegeben? Es war etwas gewesen, das sie sich so lange gewünscht hatte, und es ergab Sinn. Sie kannte sich mit Büchern aus. Sie lagen ihr im Blut. Und mit einem Secondhand-Buchladen musste man nicht mit Bestsellerlisten und Trends Schritt halten und die neuesten, verhassten Autobiografien auf Lager haben. Man stockte auf, was man finden konnte, suchte nach Raritäten und baute sich eine Klientel auf, die Bücher wirklich liebte.

Lex ging zurück in ihr Schlafzimmer und tastete auf dem Nachttisch nach dem Handy. Da waren Nachrichten von Colin, die sie ignorierte und ungeduldig vom Bildschirm wischte, um ihre Bank-App zu öffnen. Sie studierte den Inhalt mit einiger Verärgerung. Sie war noch nie gut im Sparen gewesen, vor allem nicht, seit sie in dieser Wohnung im Zentrum von Boston lebte, wo sie einen guten Teil ihres Gehalts für die Miete hinlegte. Dann gab es Einkäufe, U-Bahn-Fahrten zur Arbeit, Nächte mit Colin …

Sie hatte ein wenig auf die Seite gelegt, aber vier Wochen Abfindung waren nicht viel, und es reichte nicht aus, um ein Unternehmen zu grГјnden. So viel wusste sie zumindest.

Aber es gab noch andere Möglichkeiten. Sie dachte an ihre Mutter; es ging ihr in den letzten fünfzehn Jahren gut, sie hatte wieder geheiratet, einen wohlhabenden Mann, und sie war in einem schönen Haus mit Swimmingpool in der Vorstadt untergebracht. Sie hatte eine erfolgreiche Karriere und ihr Mann war vernarrt in sie. Sicherlich würden sie die Möglichkeit, in Lex zu investieren und ihr zu helfen, sich selbständig zu machen, nicht ablehnen.

Sie beschloss, ihre Mutter morgen früh anzurufen. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Hilfe, um die Dinge in Gang zu bringen, und ihr Traum könnte wieder lebendig werden. Es war nicht viel verlangt – seit dem College hatte sie nie ein Darlehen von der Familie genommen, und sie hatte alles zurückgezahlt, nachdem sie zu arbeiten begonnen hatte. Sie war ein Einzelkind. Welche Eltern würden nicht wollen, dass es ihrem Kind gut ging?

Etwas beruhigter zog sie sich wieder unter die Decke zurück und lächelte in der Dunkelheit vor sich hin. Am Morgen würde sie wieder auf den Weg zurückkehren, auf dem sie die ganze Zeit hätte sein sollen.


***

„Mama?“, fragte Lex und hielt überrascht das Telefon ans Ohr. „Wie seltsam. Ich wollte dich gerade anrufen!“ Eigentlich hatte sie es aufgeschoben; sie war früh aufgewacht, vor über einer Stunde, und hatte seitdem im Bett gesessen und Artikel auf einer ihrer bevorzugten Nachrichten-Webseiten gelesen. Alles, um das Unvermeidliche zu vermeiden.

„Bilde dir nicht ein, dass es ein Zufall ist, Lex“, sagte ihre Mutter eisig. „Roger hörte von Belinda, dass Carl heute Morgen mit Bryce sprach. Es scheint, dass wir die Letzten waren, die erfahren haben, dass du gefeuert wurdest.“

Lex seufzte. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren, abgesehen von Roger, dem neuen Ehemann ihrer Mutter, aber sie hatte das Gefühl, dass sie, wenn sie das sagen würde, sich eine Lektion anhören müsste, weil sie in der Vergangenheit den Geschichten ihrer Mutter nicht zugehört hatte. Das lief irgendwie nicht so, wie sie sich das Gespräch mit ihrer Mutter vorgestellt hatte. Erst ein paar Sätze waren gefallen und schon hatte sie die Kontrolle über das Gespräch an ihre Mutter verloren. „Ich war gestern Abend müde“, sagte sie. „Ich dachte, ich rufe dich heute an.“

„Was in aller Welt ist passiert?“, rastete ihre Mutter aus. „Belinda war da, um ihr Bedauern auszudrücken und Roger zu sagen, er solle mir ausrichten, dass es nicht das Ende der Welt sei und sie sich sicher sei, dass du wieder auf die Beine kommen würdest. Und wir hatten keine Ahnung. Wie konntest du deinen Job verlieren?“

„Es war nicht meine Schuld“, sagte Lex. Da sie genau wusste, wie sehr sich das nach einer lahmen Ausrede anhörte, warf sie schnell hinterher, bevor ihre Mutter noch ein Wort einlegen konnte. „Bryce sagte, dass die Partner beschlossen haben, vom Sachbuch abzuschwenken. Die Abteilung ist weg, nicht nur ich.“

„Soweit ich weiß, warst du die Abteilung. Hättest du nicht etwas tun können? Du hättest den Verkauf ankurbeln sollen. Haben Sie dir nicht angeboten, in einem anderen Bereich zu arbeiten?“

Lex holte tief Luft und zählte in ihrem Kopf bis zehn. „Es ist vorbei, Mama. Ich habe alles getan, was sie von mir verlangt haben, aber diese Art von Buch verkauft sich nicht besonders gut. Früher waren sie damit einverstanden, aber ich schätze, sie haben ihre Meinung geändert. Ich fragte, wo ich sonst hingehen könnte, und Bryce sagte mir, ich könnte nur zu Prominenten-Autobiografien wechseln. Das war keine Option für mich.“

„Wer hat dich so größenwahnsinnig gemacht, dass du einen perfekten Job ablehnst?“ Lex' Mutter drehte durch, wie Lex es erwartet hatte. Nicht zuletzt, weil sie wusste, was in den Bücherregalen ihrer Mutter stand – und Dolly Partons Autobiografie war viel abgenutzter als „Schuld und Sühne“. „Und was hast du gestern Abend gemacht, das so wichtig war, dass du nicht anrufen konntest? Bist du mir aus dem Weg gegangen, weil du wusstest, dass ich das nicht gutheißen würde?“

„Nein, Mama“, sagte Lex zähneknirschend. „Ich war bei Colin. Wir haben uns getrennt. Und ich muss dich nicht sofort anrufen, wenn etwas passiert, weißt du? Ich bin eine erwachsene Frau.“

„Du hast mit Colin Schluss gemacht?“, keuchte ihre Mutter. „Also, Lex! Was soll das? Befindest du dich auf einer Art Zerstörungsmission? Ihr seid seit Monaten zusammen. Du wirst nicht jünger, weißt du, und ich will irgendwann Enkelkinder. Was wirst du jetzt tun, ohne jemanden, der dich unterstützt?“

Lex schloss die Augen und zwickte sich in den Nasenrücken. „Ich werde mich selbst unterstützen. Ich habe eine Abfindung bekommen, und ich werde etwas anderes finden. Eigentlich wollte ich deswegen anrufen, Mama.“

„Du willst, dass Roger ein gutes Wort für dich einlegt?“, vermutete ihre Mutter. „Vielleicht findet er für dich eine freie Stelle in der Buchhaltung. Sie suchen immer nach einem Junior, der die tägliche Verwaltung übernimmt. Ich kann ihn bitten, deinen Lebenslauf in …“

„Nein, danke, aber … Nein.“ Lex holte tief Luft. Buchhaltung? Buchhaltung? Wirklich? Ihre Mutter schien, charakteristischerweise, ihre aufbrausende Wut überwunden zu haben und sich ganz auf eine Lösung zu konzentrieren. Sie war eine Geschäftsfrau, angetrieben von Logik und Tatendrang. Sie wusste, dass man schnell handeln musste, um voranzukommen, und deshalb war sie wahrscheinlich auch so verärgert, als sie hörte, dass Lex ihre Karriere und ihre Beziehung auf einen Schlag beendet hatte. Aber es gab keine Möglichkeit, dass Lex so leicht aufgeben und Buchhalterin werden würde. Lex erzählte ihr alles eilig, in der Hoffnung, dass es weniger schmerzhaft wäre, wenn sie es schnell hinter sich brächte. „Ich möchte, dass ihr mir helft. Ich werde meinen eigenen Laden für Secondhand-Bücher eröffnen. Ich brauche nur eine kleine Finanzspritze – eine Investition. Ich zahle es euch aus den Gewinnen zurück.“

Es gab eine lange Pause – quälend lange für Lex, für die sich jede Sekunde wie eine Stunde anfühlte.

„Ich glaube, mit der Verbindung stimmt etwas nicht, Lex“, sagte ihre Mutter kühl. „Denn ich bin sicher, dass ich gerade hörte, wie du sagtest, dass du einen Secondhand-Laden eröffnen willst.“

„Das will ich“, sagte Lex, ihr Mund wurde trocken. „Mama, das ist es, was ich schon immer machen wollte. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Ich brauche nur eine Chance, um anzufangen.“

„Oh ja, das ist es, was du schon immer wolltest“, schnappte ihre Mutter. „Weil es so erfolgreich war, als dein Vater und ich es versucht haben. Es hat uns zerstört, du weißt das, es hat unsere Ehe zerbrochen. Auf gar keinen Fall! Ich lasse nicht zu, dass du dein Leben wegen eines Hirngespinstes über die Rückkehr in deine Kindheit einfach wegwirfst. Es ist lange her, Lex. Er kommt nicht zurück, nicht einmal, wenn du ein Geschäft für ihn eröffnest.“

Lex atmete scharf ein und fГјhlte, wie die Worte sie bis ins Mark trafen. Es war grausam, um so grausamer, als es die Wahrheit war. Sie wusste das. Doch es ging nicht nur darum, ihren Vater zurГјckzubringen. Darum ging es eigentlich Гјberhaupt nicht.

Es ging darum, die einzige Sache zu tun, die sie jemals wirklich geliebt hatte, ihr Herz und ihre Seele hineinzulegen und dabei vielleicht auch das Vermächtnis wiederherzustellen, das er hätte hinterlassen sollen.

„Ich wollte nur …“ Lex schluckte hart, versuchte nicht zu weinen und suchte nach den richtigen Worten. „Ich weiß, dass ich es hinkriege.“

Ihre Mutter seufzte scharf, ihr Atem blies in den Hörer. „Ich wollte dir anbieten, für deine Wohnung aufzukommen, bis du wieder auf den Beinen bist, aber diese Investition kannst du vergessen“, sagte sie entschlossen. „Ich gebe dir kein zusätzliches Geld, bis du diesen lächerlichen Traum aufgibst. Bis du erwachsen wirst und ich sicher sein kann, dass du meine Spenden nicht für Sandschlösser ausgeben wirst, werde ich Schecks direkt an deinen Vermieter schicken. Ich habe seine Daten bereits von damals, als ich dir bei der Einzahlung geholfen habe.

„Mama.“ Lex starrte ihr Handy an. Wie konnte sie das tun? Sie wusste, dass Lex jetzt Schwierigkeiten haben würde, selbst mit den kleinen Dingen wie Lebensmitteleinkäufen, und sie war wohlhabend genug, um zu helfen! Auch wenn es eine Erleichterung war, dass die Miete gedeckt war, so war es doch auch eine Verzweiflungstat, die Wohltätigkeit ihrer Mutter annehmen zu müssen – vor allem, wenn dies mit der Auflage verbunden war, schnell ihre Träume aufzugeben.

„Es ist nur zu deinem Besten, Liebling“, sagte ihre Mutter, nicht unfreundlich, trotz des strengen Tons in ihrer Stimme. „Du weißt, dass ich dich sehr liebe, und Roger sorgt sich auch um dich. Aber ich werde diese lächerliche Besessenheit nicht finanzieren. Reiß dich zusammen und komm zurück in die reale Welt. Wir werden für dich hier sein, wenn du das tust.“

Dann war die Leitung still, sodass Lex wieder auf das Gerät in ihrer Hand starrte und sich fragte, wie ihre Mutter sich bei so etwas so sehr irren konnte.

Sie musste einen anderen Weg finden, um diesen Traum wahr werden zu lassen.




KAPITEL VIER


Lex spritzte sich Wasser ins Gesicht und starrte sich dabei im Spiegel an. Sie sah dasselbe Gesicht, das sie schon immer gehabt hatte: volle Lippen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, dunkelbraune Augen, umrahmt von sorgfältig geformten Brauen, und eine Stupsnase. All das war von schwarzem Haar umrahmt: Ein fransiger Pony endete knapp über ihren Augenbrauen, der Rest fiel glatt auf ihre Schultern.

„Alexis Blair“, sagte sie, sich selbst fest in die Augen schauend, „Du schaffst das. Du wirst es schon hinbekommen.“

Sie starrte noch ein paar Sekunden lang, bis sie sicher war, dass diese Überzeugung sich nicht im nächsten Moment in Luft auflösen würde, dann drehte sie sich um und trocknete sich ab. Die Dinge sahen ein wenig düster aus: Sie war arbeitslos, alleinstehend und musste sich bei der Bezahlung ihrer Miete auf ihre Mutter verlassen.

Das bedeutete nicht, dass der Traum zu Ende war. „Den Tiefpunkt erreicht zu haben“, sagte sie sich laut, denn es war tröstlicher, es sich tatsächlich sagen zu hören, „bedeutet, dass man die Chance hat, noch einmal neu anzufangen. Du hast nichts mehr zu verlieren. Jetzt hast du die Chance, es wahr werden zu lassen“.

Sie setzte sich vor ihren Laptop und glaubte fast, zu spüren, wie ihre Adern vor Aufregung und Vorfreude knisterten. Sie konnte das tun – sie konnte es wirklich.

Lex hatte es in den Stunden seit dem Anruf ihrer Mutter im Kopf gewälzt und es gab nicht sehr viele Optionen, die ihr zur Verfügung standen. Ohne Startkapital konnte sie keine Buchhandlung eröffnen und davon hatte sie nicht einmal genug, um einen Kredit von der Bank zu bekommen. Außerdem würde sie für die Nachforschungen Zeit brauchen: um einen Standort zu finden, Lieferanten zu finden, die Eckdaten für die Finanzen zu ermitteln und einen Geschäftsplan zu erstellen – Zeit, die sie nicht hatte.

Sie wusste, dass die Secondhand-Buchhandlung eine brauchbare Idee war. Man musste sich nur The Strand in New York ansehen – so erfolgreich, dass er weltweit berühmt war! Und Lex brauchte ihren kleinen Laden nicht einmal, um berühmt zu werden. Sie brauchte ihn nur, um genug Geld zu verdienen, damit sie davon leben konnte. Das war nicht unmöglich.

Um das zu ermöglichen, brauchte sie erst einmal einen Job. Aber das bedeutete nicht, dass der Job eine Zeitverschwendung sein musste: eine weitere Umleitung auf dem Weg zu ihrem Traum. Eigentlich könnte er ihr sogar helfen, dorthin zu gelangen. Sie hatte als Redakteurin begonnen, um den Markt kennenzulernen, und das war ihr gelungen. Jetzt brauchte sie echte, praktische Erfahrung.

Und wenn man in einer Kleinstadt einen Secondhand-Buchladen eröffnen wollte, wie könnte man sich besser vorbereiten, als in einem Secondhand-Buchladen in einer Kleinstadt zu arbeiten?

Lex spreizte ihre Finger und starrte auf die Suchmaschine, die auf sie wartete. Sie musste einen Ort finden, der perfekt passte: ein Laden in der Nähe, der gebrauchte Bücher verkaufte, und – was entscheidend war – nach einer Angestellten suchte. Alles wäre möglich gewesen; sie hätte lieber eine Managementposition gehabt, die besser bezahlt wäre, damit sie beginnen konnte, zu sparen, aber das war nicht weiter wichtig. Sobald ihre Mutter die Miete nicht mehr bezahlte, könnte sie in eine kleinere Wohnung ziehen und dreimal täglich Ramen-Nudeln essen – was immer nötig war, um die benötigte Investition zusammenzusparen.

Sie wГјrde es schaffen.

Lex tippte einige Stichwörter ein und begann durch die Jobseiten zu scrollen, um zu sehen, was sie in Boston finden konnte. Die üblichen nationalen oder landesweiten Ketten suchten nach Mitarbeitern, aber das würde nicht ausreichen. Sie brauchte etwas, das unabhängig war, ein Laden, der kein großes Marketingbudget und riesige Großaufträge im Rücken hatte, die ihm halfen, über die Runden zu kommen. Mehr als das, es sollten gebrauchte Bücher sein, keine neuen. Der Handel mit Secondhand-Büchern war etwas ganz anderes als der Handel mit Neuerscheinungen. Das war wahrscheinlich der Grund, warum ihr Vater es nicht geschafft hatte, den Wechsel zu einer Sparte der Branche zu vollziehen, die er nicht so gut verstand, wie er gedacht hatte.

Es gab einige wenige Secondhand-Läden in ihrer Gegend, die Lex bereits kannte, oder die zumindest so nahe gelegen waren, dass sie von Zeit zu Zeit dort vorbeischaute, aber keines von ihnen hatte freie Stellen. Sie wollte in der Stadt bleiben und ihre Wohnung möglichst behalten, aber je mehr sie suchte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr. Lex biss sich auf die Lippe und änderte die Suchparameter, um weiter entfernt zu suchen, und begann zu hoffen, dass sie nicht nach einer Gelegenheit suchte, die es nicht gab.

Nachdem sie einige Stellenangebote ausgeschlossen hatte, die nicht zu dem passten, was sie suchte, blieb ihr nur noch eines. Im gesamten Umkreis von fünfzig Kilometer um Boston gab es nur eine einzige Secondhand-Buchhandlung, die Angestellte suchte, und das war nur für eine Verkäuferin. Sie lag in einiger Entfernung, was bedeutete, dass sie ihre Wohnung nicht behalten könnte. Nicht, dass das wirklich eine schlechte Sache wäre, wenn man es richtig bedachte. Zumindest wäre sie dann nicht mehr auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen – was für ihr Ego nicht so gut war.

Lex überprüfte das aufgeführte Gehalt und spuckte fast ihren Kaffee wieder aus. Es war das Dreifache dessen, was sie auf den anderen Listen gesehen hatte. Tatsächlich war es höher als das, was ihr bei Fully Booked! gezahlt worden war.

Sicherlich musste es ein Tippfehler sein. Warum sollte eine Verkäuferin in einem Laden für gebrauchte Bücher so viel verdienen?

Lex öffnete eine neue Registerkarte und suchte nach dem Geschäft, Ein kurioser Buchladen. Sie fand nur ein Bild aus Street View, das einen kleinen, malerisch aussehenden Laden in einem alten Gebäude zeigte, charmant mit Holzelementen und unebenen Ziegelsteinen. Über der Tür befand sich eine große „36“ in Kupferbuchstaben und Lex erkannte sofort, dass es sich um dieselbe Gebäudenummer handelte, die auch die Buchhandlung ihres Vaters hatte.

Seltsam, wie es zu Zufällen kam. Selbstverständlich bedeutete es nichts. Aber der Anblick dieser Zahlen rührte sie fast zu Tränen. Vielleicht war es doch ein Zeichen, dass sie sich darauf einlassen sollte.

Als sie die Adresse noch einmal überprüfte, um sicherzugehen, dass sie sich nicht irrte, sah Lex, dass der Laden in einer Stadt namens Incanton lag. Es war eine kleine Stadt, direkt am Meer, auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht von Massachusetts gegenüber dem berüchtigten Salem, aber ein gutes Stück weiter unten an der Küste. Als Lex sich durch die Bilder klickte, sah sie, dass der Ort genauso charmant wie der Buchladen selbst war, mit vielen altmodischen Gebäuden und verwinkelten, engen Kopfsteinpflasterstraßen im Schatten von Laubbäumen.

Irgendwie fГјhlte der Ort sich vage vertraut an. War sie schon einmal dort gewesen? Hatte sie ihn vielleicht in einem Film gesehen? Es war ein seltsames GefГјhl von DГ©jГ -vu, das sie nicht abschГјtteln konnte, obwohl sie wusste, dass sie nicht dort gewesen war, zumindest konnte sie sich nicht erinnern.

Nichts, was sie sah, deutete auf einen bestimmten Grund hin, warum der Laden so viel bezahlen sollte. Nach langem Suchen und Klicken auf ähnliche Ergebnisse fand Lex die Webseite von Ein kurioser Buchladen, aber es war nur eine Zielseite mit einer Telefonnummer und einer Informationszeile: „Nur nach Vereinbarung.“ Nicht nur das, es sah auch so aus, als sei sie vor zehn Jahren entworfen und nie aktualisiert worden.

Keine Rezensionen, keine Social-Media-Seiten, keine anderen Bilder – Lex begann zu glauben, der Laden existierte nicht einmal wirklich. War das Stellenangebot echt oder eine Art Betrug?

Es gab keine anderen Optionen mehr zu prüfen, aber sie konnte zumindest fragen. Lex notierte sich die Nummer und wählte.

„Hallo, Sie haben den Kuriosen Buchladen erreicht“, antwortete eine Stimme. „Montgomery David am Apparat. Suchen Sie ein bestimmtes Buch?“

Lex hatte nicht mit einer so schnellen Antwort gerechnet und musste sich räuspern, bevor sie antworten konnte. „Oh, ja, ähm, ich rufe wegen der Stellenausschreibung an“, sagte sie. „Suchen Sie immer noch jemanden?“

Montgomery, zweifellos der Eigentümer selbst, grunzte. „In diesem Moment noch. Sie haben Glück. Ich war kurz davor, eine Entscheidung zu treffen. Können Sie es bis drei Uhr hierher schaffen?“

Lex blinzelte. „Möchten Sie nicht erst meine Qualifikationen wissen?“

Montgomery hielt so lange inne, dass sie sich nicht sicher war, ob er sie gehört hatte.

„Wann sind Sie geboren?“

Lex machte eine Pause, unsicher, wie sie antworten sollte. Wollte er wissen, ob sie zu jung für den Job war? Oder ihren tatsächlichen Geburtstag?

„Siebenundzwanzigster November“, sagte Lex.

Eine weitere lange Pause.

Dann, endlich:

„Ah … ein Schütze. Nun … es ist ein günstiger Zeitpunkt, um …“

Er machte eine lange Pause.

Lex war verblГјfft. WorГјber sprach er? War dies wirklich eine Stellenausschreibung? Es kam ihr alles etwas seltsam vor. Sie wollte gerade auflegen, als er wieder sprach.

„OK“, sagte er. „Seien Sie um drei Uhr hier.“

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr – sie müsste sich beeilen, wenn sie es schaffen wollte. Jetzt war sie diejenige, die zögerte. War das alles echt? Andererseits wollte sie den Job unbedingt haben und es war nicht so, dass ihr Terminkalender voll war. Außerdem hatte sie gespürt, wie ihr Herz bei dem Gedanken an das Gehalt in der Brust hüpfte. Es war gutes Geld.

„Ich werde da sein.“

„Genau. Wir sehen uns dann. Oh, und stöbern Sie nicht in den Regalen und lesen Bücher, bevor ich Sie finde.“

Sie war perplex.

„Wie bitte? Warum?“, begann sie, aber die Leitung war bereits tot.

Der mysteriöse Montgomery, wer auch immer er war, hatte sich sehr, sehr seltsam angehört. Was sollte die Warnung vor den Büchern bedeuten?

Aber was sollte sie tun, hier sitzen und darauf warten, dass ihre Abfindung zur Neige ging, während sie verzweifelt nach einer anderen Secondhand-Buchhandlung suchte, die sie nehmen würde? Nein – das war eine Gelegenheit, und Lex wollte sie ergreifen.

Sie stand von ihrem Stuhl auf, griff sich ein paar KleidungsstГјcke und begann, sie in die Tasche zu stopfen, nur fГјr den Fall, dass sie sie brauchen wГјrde, dann wirbelte sie ohne Verschnaufpause aus der TГјr, legte im Vorbeigehen einen Blazer Гјber den Arm und schlug dann die TГјr hinter sich zu.

Der Laden war weit weg und es schien bereits jetzt, als könne sie sich verspäten.




KAPITEL FГњNF


Lex drosselte das Tempo, als ihr Auto an einem verzierten weiß gestrichenen Holzschild vorbeifuhr, das mit schwarzer Schrift verkündete, dass sie nun nach Incanton hineinfuhr. Als das Geräusch ihres Motors leiser wurde, hörte sie irgendwo in der Nähe Kirchenglocken läuten, die ihr signalisierten, dass es halb zwei Uhr war. Es schien, als hätte sie die vom GPS vorhergesagte Ankunftszeit leicht unterboten und hatte nun die Zeit, die sie brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen und ein Gefühl für die Gegend zu bekommen.

Es gab einen Parkplatz näher an der Küste, und sie fuhr in diese Richtung, wobei sie Schildern folgte, auf denen nur „STADTZENTRUM“ und „KÜSTENSTRASSE“ als mögliche Ziele angegeben waren. Als sie auf den Parkplatz zusteuerte, wurden die Straßen schmaler und sie bemerkte gepflasterte Seitenstraßen und Gebäude, die aussahen, als wären sie schon seit der Landung der ersten Siedler dort gewesen.

Der Parkplatz, scheinbar ein Gemeinschaftsplatz, der einige Geschäfte im Stadtzentrum bediente, war halb leer. Lex parkte problemlos und wählte einen Platz in der Mitte des Parkplatzes, einfach weil so viel Platz war. Sie stieg aus ihrem Auto aus, schaute sich um und atmete die salzige Brise ein. Das Meer war so nahe, dass sie es am Ende der Straße hinter dem Parkplatz sehen konnte, ein blauer Streifen am Horizont, der sich mit dem heute klaren blauen Himmel vermischte.

Sie lächelte, während sie sich umschaute, und hielt eine Hand über die Augen gegen die Frühsommersonne. Incanton war genauso klein und idyllisch, wie es online ausgesehen hatte. Mehrere Menschen tummelten sich auf den Straßen, gingen in Läden ein und aus, trugen Taschen voller Einkäufe nach Hause – hier auf dem Parkplatz war es ruhiger, und sie konnte die Rufe der Möwen über dem Wasser hören.

Vielleicht war es nur die Vorfreude, die sie erfasst hatte, aber hier sah alles interessanter aus – auch die Menschen. Sie zog ihre Handtasche vom Beifahrersitz und schloss das Auto ab, wobei sie umher und über ihre Schulter blickend die Fußgänger betrachtete. Ältere Damen, deren Köpfe mit Wolken aus dünnen Haarfusseln gekrönt waren, die aber immer noch kraftvoll herumspazierten und dabei lebhaft miteinander plapperten, während sie an ihr vorbeigingen. Eine Mutter mit einem tiefvioletten Kinderwagen, nach dem Design zu schließen vielleicht ein neu gepolstertes Vintage-Modell, wedelte mit einem verzückten Lächeln eine Rassel vor dem Gesicht des Babys herum, während sie es langsam vor sich herschob.

Lex beobachtete einen Mann mittleren Alters in einem hell gestreiften Strickpulli, der aus einem Laden kam, und schaute auf, um das Schild zu lesen: Ms. Teaks Antiquitäten. Es befand sich neben dem Friseursalon: Hair Today, Gone Tomorrow Jeder Laden hier schien malerisch und charmant, ein perfekter Mikrokosmos einer amerikanischen Kleinstadt. Als ob sie das Set einer Fernsehsendung betreten hätte, kein echter Ort. Sie erwartete halbwegs, dass Lorelai Gilmore um die Ecke kommen würde oder dass sie plötzlich einer Gruppe von Pilgern mit hohen Hüten und Reithosen gegenüber stehen würde.

Sie ging zuerst am Parkplatz vorbei, hinunter zur Strandpromenade. Dort standen bunte Gebäude näher am Wasser, die Holzbretter von der Sonne verblasst, aber alle in fröhlichen Farbtönen. Sie schaute zu einem Eisverkäufer auf und wurde von einer weiteren Welle des gleichen Déjà-vu getroffen, das sie zuvor empfunden hatte.

Was hatte es mit diesem Ort auf sich? Das Geschrei der Möwen, die über ihnen durch den Himmel schossen, die Sonne, das Eis, die bemalten Bretter – da war doch eine verblasste Erinnerung irgendwo?

Eine Vision ihres Vaters zerrte plötzlich an ihrem Herz, weite Shorts tragend bückte er sich, um ihr ein Eishörnchen zu übergeben, das er gerade gekauft hatte. Sie erinnerte sich an die Freude des kleinen Mädchens, die kalte Welle des Eises in ihrer Kehle, das sie mit winzigen Händen schützend abschirmte, als ihr Vater scherzte, dass die Möwen herunterstürzen könnten, um es zu stehlen.

Lex blickte erneut die StraГџe auf und ab und sah alles noch einmal ganz genau an. Ja, sie war schon einmal hier gewesen. Einmal, vor sehr langer Zeit, als ihr Vater noch da war. Bevor es schlimm wurde. Weil sie so jung gewesen war, hatte sie sich bis jetzt nicht daran erinnert. Die Erinnerung war schwach und verschwommen und als sie versuchte, noch tiefer hineinzutauchen, entglitt sie ihr einfach. Aber sie war da. Irgendwo.

„Papa“, hauchte Lex, Tränen stiegen ihr ohne Vorwarnung in die Augen. Es fühlte sich gut an, wieder an ihn zu denken, wenn auch bittersüß. Sie lebte jeden Tag mit seiner Erinnerung, und es war etwas Besonderes, eine neue, verlorene Erinnerung zu entdecken. Sie machte einen Schritt nach vorne und überlegte, dass sie vielleicht ein Eis kaufen sollte, um der alten Zeiten willen.

„Uff! – Wow – Entschuldigung – geht es Ihnen gut?“

Lex richtete sich auf, blinzelte. Genau in dem Moment, als sie nach vorne trat, war ihr jemand in den Weg geschossen, und sie waren zusammengestoßen. Es hatte ihr den Atem aus der Brust gehauen, doch zumindest war sie nicht umgefallen. Der braune, taillierte Anzug, den sie für das Interview trug, würde wahrscheinlich nicht so toll aussehen, wenn er mit Schmutz vom Bürgersteig bedeckt wäre.

„Mir geht es gut“, sagte sie und holte tief Luft. „Entschuldigung, es war wahrscheinlich meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst, wo ich hingehe.“

„Ich auch nicht.“ Der Typ, der jetzt knabenhaft grinste, tastete sich schnell ab. „Kein Schaden entstanden. Wirklich, das tut mir leid. Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Sie sehen ein wenig benommen aus.“

Lex lächelte flüchtig und versicherte ihm „Mir geht es gut, wirklich. Ich war nur in Gedanken versunken.“

Er war wahrscheinlich ungefähr in ihrem Alter, dachte sie, obwohl der Rucksack auf seinen Schultern ihn jünger erscheinen ließ. Seine Augen kniffen sich hinter einer zarten Brille mit goldenem Gestell zusammen und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, das sein ganzes Gesicht erhellte.

„Schön, das zu hören“, sagte er und drehte sich um, um weiter die Straße hinunterzugehen. „Nochmals Entschuldigung!“

Lex errötete und es war ihr etwas peinlich, weil sie so in Gedanken verloren war, dass sie direkt in jemanden hineingelaufen war. Wenigstens hatte sie es geschafft, das Rot so lange zurückzuhalten, bis er weg war. Sie schaute auf ihre Uhr und stellte fest, dass es erst zwanzig vor drei war, zu früh, um zum Kuriosen Buchladen zu gehen, da diese nur ein paar Straßen weiter lag. Sie beschloss, eine Weile über die Strandpromenade zu schlendern und sich die Läden und ihr Angebot anzusehen.

Es gefiel ihr hier, entschied sie, als sie in die erste Boutique schaute und dort Vintage-Kleidung aus allen Epochen vorfand. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um durch die Regale zu stöbern, berührte hier ein mit Pailletten und Perlen besticktes Flapperkleid, dort einen schweren Samtmantel. Dieser muffige Geruch, der immer um gebrauchte Kleidung zu schweben schien, erfüllte die Luft und brachte sie zum Lächeln. Sie freute sich darauf, wieder mit Secondhand-Büchern zu arbeiten. Auch wenn sie versuchte, nicht zu vergessen, dass es sich zunächst nur um ein Vorstellungsgespräch handelte, konnte sie nicht umhin, eine gewisse Vorfreude zu empfinden. Die Erinnerungen an ihre Kindheit kamen sehr stark zurück.

Lex verließ den Vintage-Laden und ging ein paar Schritte auf dem Bürgersteig entlang, wobei sie das Motiv einer Meerjungfrau bewunderte, das auf die verwitterten Holztafeln des nächsten Ladens gemalt war. Ein Blick in das Fenster zeigte ihr eine Ansammlung verschiedener ausgefallener Angelköder sowie größere Netze und ein paar Ruten. Eine Frau, die auf dem Bürgersteig auf sie zukam, lächelte, als sie vorbeiging, und Lex lächelte automatisch zurück. Hier herrschte ein ruhigerer Lebensrhythmus, nicht so viel Hektik und Trubel. Die Leute drängten nicht unhöflich vorbei und keines der Geschäfte schien zu einer Kette zu gehören. Lex konnte nicht umhin, es mit der Gegend zu vergleichen, in der sie gelebt und gearbeitet hatte, und wie niemand jemals die Zeit zu haben schien, sich gegenseitig auch nur einen zweiten Blick zuzuwerfen.

Das nächste Geschäft nebenan hieß Lost and Found by the Sea; als Lex durch die Tür hineinblickte, konnte sie einem kurzen Besuch im Inneren nicht widerstehen.

Die Stände und Regale waren mit allen möglichen Kuriositäten gefüllt: Treibholz, das in seltsame Formen gebracht und dann zurechtgeschnitzt worden war, um als Stifthalter, Kleiderhaken oder Briefbeschwerer zu dienen. Da waren Felsen, die von der Flut rund gespült und mit ornamentalen Verzierungen und Inschriften versehen worden waren; Krüge, die mit Sand gefüllt waren, der in mehreren Schichten mit verschiedenen Farbstoffen gefärbt war.

Lex sah eine Glasplatte mit einer Landschaft, die aus weißem und schwarzem Sand entstanden war; daneben befand sich eine kunstvoll handgeschriebene Aufforderung „Dreh mich um.“ Fasziniert hob sie sie an und setzte sie umgedreht wieder auf ihren Ständer, während sie staunend zuschaute, wie der Sand durch eine dicke Flüssigkeit wieder nach unten rieselte, um eine weitere, ebenso schöne Sandlandschaft zu schaffen.

„Es ist wie Magie, nicht wahr?“

Lex drehte sich um und sah einen Mann, der sie mit amГјsiertem Gesichtsausdruck beobachtete. Er war eher klein, etwas Г¤lter, mit dickem, borstigem Haar und Bart in einem verblassenden Kastanienbraun, das nun zu Grau tendierte. Auf seiner Nasenspitze befand sich eine dicke Brille und unter einer ordentlichen grГјnen Weste war eine kleine Wampe zu sehen.

„Das ist wirklich etwas Besonderes“, stimmte sie zu und drehte sich um, um die letzten verbliebenen Sandkörner an ihren Platz fallen zu sehen. „Ich nehme an, die Viskosität der Flüssigkeit sorgt dafür, dass der Sand sich langsamer bewegt und diese Schichten bildet.

Der Ladenbesitzer kicherte leise. „Ein logischer Verstand, wie ich sehe“, sagte er. „Ihnen macht man so leicht nichts vor, nicht wahr?“

Lex lächelte. „Ich möchte wissen, wie die Dinge funktionieren“, sagte sie. Es fiel ihr auf, dass der Mann freundlich, ruhig und einladend war; er versuchte nicht, ihr einen Verkauf aufzudrängen. Es war erfrischend. In der Stadt neigten die großen Handelsketten dazu, nur Ausverkauf und kein Herz zu haben.

„Nun, dann sind Sie vielleicht an unseren Workshops interessiert“, sagte er mit eulenhaft großen Augen hinter seiner Brille und zeigte auf ein Flugblatt, das im Fenster ausgehängt war. „Wir veranstalten sie jeweils am letzten Freitag des Monats. Die Teilnahme ist kostenlos und Sie können zusehen, wie ich einige der großen Schätze des Meeres in diese Gegenstände verwandle, die Sie vor sich sehen.

„Das klingt reizend“, sagte Lex. „Vielleicht komme ich vorbei, wenn ich in der Nähe bin.“

„Besuchen Sie hier einen Freund?“, fragte der Ladenbesitzer. Er schlenderte zurück zu seinem Tresen hinter eine uralte Registrierkasse. Der Laden war so klein, dass Lex ihn trotzdem sehen und sich mit ihm unterhalten konnte.

„Ich bin eigentlich wegen eines Vorstellungsgesprächs hier“, sagte sie und schaute auf ihre Uhr. „Oh nein, ich muss in ein paar Minuten da sein. Ich sollte mich besser beeilen!“

„Viel Glück, meine Liebe“, rief ihr der Ladenbesitzer nach, als sie zur Tür ging, und sie warf ein dankbares Lächeln über die Schulter, während die Glocke über dem Eingang ihren Abschied verkündete.




KAPITEL SECHS


Lex eilte die Straße entlang, die Strandpromenade hinunter und um die Ecke zum Parkplatz. Dort fand sie sich schnell zurecht, schaute sich die Karte auf ihrem Smartphone an und lief dann durch immer enger werdenden Kopfsteinpflasterstraßen, wobei sie sich sehr bemühte, einen Mittelweg zu finden, um einerseits nicht zu spät zu kommen und andererseits nicht errötet und verschwitzt anzukommen.

Als sie bei der Adresse ankam, sah sie sich verwirrt um. Sie sah erneut auf ihrer Karte nach und da war sie – die Markierung für den Laden, angeblich genau an ihrem Standort. Aber wo war er? Sie konnte die Fassade, die sie von den Online-Fotos her kannte, nirgendwo entdecken, und die meisten Gebäude hier sahen mehr nach Wohn- als nach Geschäftsgebäuden aus.

„Haben Sie sich verirrt?“, ertönte eine trockene Stimme hinter ihr. Lex drehte sich in Panik um und richtete dann ihren Blick nach unten. Eine kleine alte Dame stand da und beobachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf und hochgezogenen weißen Augenbrauen.

„Ähm, ja, ich glaube schon“, sagte Lex. „Ich suche ein Geschäft, den Kuriosen Buchladen.“

„Sind Sie sicher?“, fragte die Frau und warf ihr einen leicht schielenden Blick zu. „Sie sehen nicht wie die typische Kundin aus. Haben Sie den richtigen Namen?“

Lex blinzelte. „J-ja, ich bin sicher.“ Wie sah eine Kundin von Ein kurioser Buchladen aus? War es etwas Schlechtes oder etwas Gutes, dass sie nicht „typisch“ war?

„Gehen Sie da durch“, sagte die Frau, hob einen dünnen Arm und zeigte auf die nächste Straße. „Sie sind nah genug dran.“

„Danke!“, rief Lex über ihre Schulter, als sie loseilte und fand, dass ihr die Leute hier  immer besser gefielen.

Da stand es vor ihr, als sie um die Ecke bog – genau so, wie es auf den Fotos ausgesehen hatte, mit Holzbrettern im Kontrast zu unebenen Ziegelsteinen, krummen Fensterrahmen und einer großen Holztür. Die Buchstaben des Schildes über der Tür waren aus altem Kupfer, das im Laufe der Zeit eine grüne Patina angenommen hatte.

Lex holte tief Luft und versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Sie hoffte, sie war von ihrem wilden Streifzug durch die StraГџen nicht verschwitzt oder zerzaust. Sie Гјberlegte, ihr Spiegelbild im Glas eines der Fenster zu betrachten, aber dann erkannte sie, dass sie von demjenigen, der sich vielleicht darin befand, gesehen werden konnte, und ging stattdessen direkt auf die TГјr zu.

Der Türrahmen war an manchen Stellen abgesplittert und trug Kratzer und Dellen – ein weiteres Zeichen für die Persönlichkeit und Geschichte des Gebäudes, Spuren, die vor langer Zeit von einer Hand hinterlassen wurden, die es wahrscheinlich nicht mehr gab. Lex griff nach der Türklinke und schaute dabei auf ihre Uhr, um mit Schrecken zu sehen, dass es bereits ein paar Minuten nach der verabredeten Zeit war. Sie öffnete die Tür weit und trat ein.

Über ihrem Kopf ertönte ein sanfter Glockenschlag – eine süßere und sanftere Schwester des Glockenspiels über der Tür in Lost and Found by the Sea – als sie über die Schwelle trat. Auf dem Boden lag eine verblichene Matte, auf der sie instinktiv ihre Schuhe abwischte, da sie keinen Schmutz von draußen hereinbringen wollte. Ihr Herz raste, und sie blickte sich hastig nach irgendeinem Zeichen des Mannes um, der sie interviewen sollte.

Sie hatte erwartet, einen Buchladen zu betreten, aber was sie sah, überraschte sie: ein langer Flur, der sich vor ihr bis zur Rückwand des Gebäudes erstreckte. Das Holz war alt und verzogen und nicht von einem Teppich bedeckt, sodass die Oberfläche des Bodens zu quellen und zu wogen schien wie das Meer.

Der schmale Flur war auf beiden Seiten mit Bilderrahmen verziert und zwischen diesen Rahmen befanden sich breite, offene Türbögen ohne Türen. Welchen Weg sollte sie gehen? Es gab keine Schilder oder Wegbeschreibungen, keine Hinweise darauf, wo der Besitzer sein könnte. Als Lex zweifelnd vortrat, spähte sie durch den ersten Türbogen und sah Regale über Regale, die scheinbar wahllos mit alten Büchern voll gestapelt waren, von denen einige so alt waren, dass die Buchrücken auseinanderzufallen schienen. Die Decke war niedrig und schien sich in der Mitte nach unten zu beugen, als ob sie zu viel Gewicht tragen würde. Ein fadenscheiniger, gemusterter roter Teppich lag auf dem Boden und zeigte die Spuren vieler Füße, die entlang der vier Seiten des kleinen Raumes gelaufen waren.

Wenigstens gab es hier Bücher, was ermutigend war; sie war definitiv am richtigen Ort. Aber es gab keine Verkaufstheke, kein Zeichen von irgend jemand anderem und keinen Hinweis darauf, welche Art von Büchern hier vor ihr lag. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal mehr Titel auf dem Buchrücken und diejenigen, die Titel hatten, waren so verblasst, dass sie nicht mehr lesbar waren. Sie trat vor, um eines von ihnen leicht zu berühren, und fragte sich, was für ein Text sich in den Einbänden befand.

Irgendetwas berührte ihr Herz – vielleicht war es die Art, wie die Bücher in den Regalen lagen – die ihr so vertraut und tröstlich erschien. Lex quollen fast die Tränen in die Augen. Es war, als ob ihr Vater direkt hinter ihr stünde und ihr über die Schulter blickte. Das Holz – war es nicht die gleiche Art Regal, die er in seinem Laden benutzt hatte?

Lex riss sich von den seltsam blanken Büchern los und schaute durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Sie gewann langsam den Eindruck, dass dieses Gebäude einst ein Zuhause gewesen war, die Räume nach Nutzung getrennt. Ein Wohnzimmer, vielleicht, und hier, das nächste, ein größerer offener Raum – vielleicht ein Speisezimmer oder ein Empfangszimmer für Besucher. Am wichtigsten war, dass dieser Raum derjenige mit der Theke war, und Lex bewegte sich mit Erleichterung darauf zu.

Dahinter war niemand zu sehen und so schaute sie sich in diesem neuen Raum um. Licht flutete durch die Fenster hinein, die von außen so klein und dunkel erschienen, und warf Sonnenstrahlen in den Raum. Sie fingen die Staubpartikel auf, die in der Luft tanzten und eine leicht verträumte Atmosphäre schufen. Lex zog scharf die Luft ein, als sie die Kasse sah. Sie konnte sich nicht sicher sein, aber sah sie von hinten nicht genau so aus wie die, die ihr Vater vor all den Jahren benutzt hatte?

Sie stellte sich vor, sie stünde dahinter, plauderte fröhlich mit einem Kunden, der sie um Empfehlungen bat, und mit einem Buch hinausging, das mit Sicherheit ein neues Lieblingsbuch werden würde. Ja, sie konnte es vor ihrem geistigen Auge sehen. Sie wollte die Stelle haben. Sie wollte hier arbeiten, mehr als sie in das enge Kellerbüro in Boston zurückkehren wollte. Das hier wäre so viel besser.

Der Boden hier war auch uneben, alte, verzogene Bretter, der größte Teil davon mit einem weiteren Teppich bedeckt. Dieser hatte ein komplexes Design, es war ein Gobelin mit Bildern von Füchsen auf der Jagd nach Kaninchen, Männer auf Pferden auf der Jagd nach den Füchsen und anderen Kreaturen – Einhörner, Bären, Wölfe, die alle durch ein Muster gewoben waren, das an Baumstämme erinnerte.

Das Muster bestand aus geraden Linien um den Rand des Teppichs und umkreiste ein zentrales Motiv aus wirbelnden, abstrakten Linien, die vielleicht die Dornen von Büschen darstellen sollten. Alles daran war bezaubernd, als wäre es vor ihrem Tod aus dem Haus ihrer alten Großmutter herausgenommen und als ein einladender Teppich hier wiedergeboren worden. Lex konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, verzaubert von dem Muster huschten ihre Augen über all die Strudel und Dornen.

Auf dem Tresen stand eine antike Glocke. Nach kurzem Zögern schlug Lex sie an, hörte sie mit einem angenehmen Ton erklingen und zuckte bei der Lautstärke leicht zusammen. Dieser Raum war besser organisiert. Die Bücher in den Regalen schienen besser gepflegt zu sein, und zwei Tische im Zentrum des Raumes waren sogar nach Genres sortiert. An einem der Tische hing ein Schild mit der Aufschrift „Präsentation lokaler Autoren“, während der andere „Bücher über Massachusetts“ enthielt. Lex senkte den Kopf, um einige der Titel in den Regalen zu lesen: Großbritanniens Hecken – Erzählungen eines Vagabunden; Siebzehn Geschichten über neue Kolonien; Sechs essenzielle Kochkräuter und ihre Verwendung.

Was genau war das für ein Laden? Worauf war er spezialisiert? Waren dies Sachbücher oder Fiktion, Geschichte oder Reiseführer? Lex drehte ihren Kopf herum und schaute auf das Regal an der anderen Wand: Streiten mit Dummköpfen; Hundert und zehn Gründe, sich eine Katze zuzulegen; Ritualpraktiken des Nahen Ostens. Steckte dahinter überhaupt ein System? Wenn ja, konnte sie es nicht erkennen.

„Ah!“ Ein Mann tauchte hinter der Theke auf, duckte sich, als er eine dahinter versteckte Treppe hinunterkam, und sah sie dann mit einem zögerlichen Lächeln an. „Sie müssen …“

„Alexis Blair“, antwortete sie.

„… mein Bewerbungsgespräch.“ Er nickte. Lex versuchte, sein Alter zu erraten – er war wahrscheinlich älter als ihr Vater gewesen wäre. Sein gepflegtes Haar war grau, und er war glatt rasiert. „Sieh an, sieh an. Ich war gerade oben und habe Sie nicht hereinkommen hören.“

„Ich habe mich auf dem Weg ein wenig verlaufen“, sagte Lex und wünschte sich sofort, sie würde aufhören zu reden. Warum entschuldigte sie ihre Verspätung, wenn er nicht einmal bemerkt hatte, dass sie sich verspätet hatte? „Jemand war so freundlich, mir die richtige Richtung zu zeigen. Sie müssen Montgomery sein.“

„Das ist richtig, das ist richtig. Haben Sie sich umgesehen?“, fragte Montgomery. Er schien sich zu freuen, dass man ihr Hilfe angeboten hatte, oder vielleicht auch darüber, dass sie erraten hatte, wer er war. Lex konnte es nicht sagen.

Er bot einen seltsamen Anblick. Wie der Besitzer von Lost and Found by the Sea trug auch Montgomery eine schicke Weste, diese in einem Braunton, der Lex' eigenem Anzug nicht unähnlich war. Sie passte genau zu der Fliege aus dem gleichen Stoff, und darunter trug Montgomery ein weißes Hemd mit – und als er näher kam, um ihr die Hand zu schütteln, war sich Lex sicher – einem Muster aus winzigen Enten.

„Noch nicht“, gab sie zu. „Nun, ich habe in den Raum auf der anderen Seite des Flurs geschaut.“ Was sie gesehen hatte, erschien ihr gut genug; dieser Ort war wunderbar. Wenn sie hier arbeiten könnte, würde sie all die Erfahrungen sammeln, die sie brauchte – und es würde ihr etwas geben, von dem sie nicht gewusst hatte, dass ihr Herz es so dringend brauchte: eine Verbindung zu ihrem Vater, die in jeder Linie dieses Gebäudes zu existieren schien.

„Folgen Sie mir trotzdem, folgen Sie mir“, sagte Montgomery und bedeutete ihr, hinter den Tresen zu kommen, als er sich wegdrehte. „Wir müssen beginnen.“ Auf der Rückseite seiner Weste befand sich ein ordentlich platzierter Preisaufkleber, der angab, dass er 3,99 Dollar kostete; Lex vermutete, dass sich dieser Aufkleber irgendwann von einem der Bücher gelöst und an seine Kleidung geheftet haben musste. Sie widerstand dem extrem starken Drang, nach vorne zu greifen und ihn abzuziehen, für den Fall, dass er sie erwischte.

Lex fühlte, wie sich ihre Herzfrequenz bei seinen Worten erhöhte, als sie hinter die Theke ging. Dies war der Teil eines jeden Bewerbungsgesprächs, den sie fürchtete. Es lag nicht daran, dass sie sich nicht gut ausdrücken konnte oder dass sie glaubte, dass sie nicht die richtigen Qualifikationen für die Stelle hatte. Es fiel ihr einfach nur schwer, andere dazu zu bringen, sie zu mögen, zumindest im Verlauf eines einzigen kurzen Gesprächs.

Dennoch versuchte sie, ihre Nerven zu beruhigen und setzte ein heiteres Gesicht auf, bevor sie Montgomery folgte. Er blieb stehen, wartete, bis sie sich zu ihm gesellte, und deutete dann auf eine dünne und verdächtig instabil aussehende Treppe.

„Hier entlang, hier entlang“, sagte er. „Wir gehen die Treppe hinauf. Sie sehen hier …“. Er verstummte.

Lex fand ihre Entschlossenheit, seinen Satz nicht zu beenden, nach kurzer Zeit schwinden, da das Schweigen zu lange anhielt. Es war fast unerträglich unangenehm, weil er sie dabei mit leicht zur Seite geneigtem Kopf ansah, während sie stumm dastand und wartete.

„Wertvolle Bücher?“, sagte sie schließlich und wagte es, eine Vermutung anzustellen.

„Den Personalraum“, beendete Montgomery. Er runzelte misstrauisch die Stirn zu und drehte sich dann um, damit sie ihm die Treppe hinauf folgte.

Lex dachte über die Möglichkeit nach, einfach durch die Vordertür hinauszulaufen, während er sich umdrehte. Er musste glauben, dass sie dort war, um ihn auszurauben, oder ähnliches! Warum hatte sie das gesagt? Sie schluckte die Demütigung hinunter und folgte ihm, wobei sie sich zur Ruhe ermahnte. Sie liebte diesen Ort bereits – die alten Zimmer, den Geruch der Bücher, den Kleinstadt–Charme. Er erinnerte sie so sehr an ihren Vater, und sie fühlte sich bereits mit dem kleinen Teil, den sie davon gesehen hatte, emotional verbunden.

Der Raum, in den Montgomery sie führte, entpuppte sich als ein viel gemütlicherer Raum, als sie erwartet hatte. Es gab einen kleinen Kamin, der im Moment dank des milden Sommerwetters unnötig war, und ein paar klobige, aber nicht unbequem aussehende Sessel mit einem lebhaften Blumendruck, die darum herum aufgestellt waren. Ein Couchtisch daneben war mit Stapeln von losem Papier und Notizbüchern bedeckt – die meisten sahen aus wie Rechnungen – und der Raum wurde von antik aussehenden Leuchten erhellt, die mit einer echten Flamme in Abständen an der Wand entlang flackerten. Schwere, dunkle Balken an der Decke kontrastierten mit weiß verputzten Wänden und die in eine Wand eingelassenen Fenster waren mit etwas bedeckt, das wie Wandteppiche aussah und dem auf dem Boden vor der Theke im Erdgeschoss ähnelte. Das Tageslicht wurde fast vollständig ausgeblendet, sodass der Raum nur durch das flackernde gelbe Licht der Leuchten erhellt wurde, die seltsame Schatten an die Wände warfen.

Montgomery setzte sich in einen der Sessel, er war abgenutzt und mit Kissen bedeckt, die vom jahrzehntelangen Gebrauch dünn geworden waren. Lex tat es ihm gleich und ließ sich in einem anderen Sessel nieder. Der Sessel war überraschend bequem – so bequem, dass sie sofort spürte, wie eine Woge der Schläfrigkeit sie  überkam. Vielleicht war es die Anstrengung der Eile, pünktlich hierherzukommen, gepaart mit der Wärme draußen und der gemütlichen Atmosphäre. Auf einem niedrigen Beistelltisch stand eine dampfende Teekanne, und Montgomery goss ohne zu fragen zwei Tassen ein und reichte Lex eine davon.

Auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine große, schwere Tür – so groß, dass sie den Raum zu dominieren schien und unwillkürlich Lex’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schien ganz aus schwerem Eisen zu bestehen, und die Oberfläche war mit seltsamen, runenartigen Markierungen verkratzt, alles gerade Linien und scharfe Winkel. Was in aller Welt könnte sich hinter einer solchen Tür befinden?

„Also – Alexis, war es, nicht wahr?“

Lex wurde ruckartig wieder in die Realität befördert und nickte schnell. Schließlich musste sie hier einen guten Eindruck hinterlassen. „So ist es.“

Montgomery blätterte ein kleines Notizbuch durch, um eine leere Seite zu finden, zog einen Stift aus seiner Westentasche und leckte die Feder ab, bevor er eine Pause machte. Er hielt den Stift erwartungsvoll über das Papier und sah sie an. „Sie sagten, Sie hätten Erfahrung im Verlagswesen?“

„Ja“, sagte Lex und schaltete ihr Gehirn in den professionellen Modus. „Ich habe beim Verlag Fully Booked! als Lektorin für Sachbücher gearbeitet. Eigentlich die einzige Lektorin für Sachbücher. Ich bin gegangen, weil sie die Abteilung geschlossen haben.“

„Und hatten Sie dort direkt mit den Autoren zu tun? Dem Buchhandel?“ Montgomery beäugte sie scharf und notierte noch nichts.

„Ja, beides“, antwortete Lex. „Ich stand von Anfang an mit den Autoren in Verbindung, von dem Moment an, wenn sie uns ein Manuskript zur Prüfung vorlegten, bis hin zur endgültigen editierten Fassung. Wir sahen uns auch Verkaufsberichte an, zur Information für spätere Akquisitionen.

Montgomery nickte nachdenklich. „Und hatten Sie jemals mit mysteriösen Krankheiten zu tun?“

Lex blinzelte. Was meinte er damit? „Ähm … nun, ich habe mit ein paar medizinischen Fachleuten gearbeitet“, sagte sie. „Mein letzter Titel war Ein Einblick in das endokrine System. Er wird Ende nächsten Monats erscheinen.“

Montgomery kritzelte etwas in sein Notizbuch. Das war die eine Sache, die er aufschrieb? Lex bemГјhte sich, die Fassung zu bewahren. Er schien von ihrer Arbeitserfahrung Гјberhaupt nicht beeindruckt zu sein.

„Haben Sie schon einmal in einer Buchhandlung gearbeitet?“, fragte er.

„Ja!“, antwortete sie, froh, dass er es angesprochen hatte. „Nun, nein. Ich meine … mein Vater hatte früher eine Buchhandlung wie diese hier. Als ich aufwuchs, half ich ihm im Laden aus. Ich packte Bücher aus, stellte sie in die Regale, kümmerte mich um die Kunden – alles, wirklich alles.“

Montgomery grunzte. „Ich glaube nicht, dass es eine Buchhandlung wie diese gewesen wäre“, sagte er und Lex musste einen Schluck von ihrem Tee nehmen, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Vielleicht hatte sie ihn beleidigt. „Hat Ihnen die Arbeit gefallen?“

„Natürlich.“ Lex nickte und versuchte, den merkwürdigen Geschmack des Tees zu ignorieren. Was war das? Eine Art Kräutermischung? „Es hat in mir eine lebenslange Liebe zu Büchern geweckt. Es ist der Grund, warum meine Karriere diesen Weg genommen hat, und warum ich heute hier bin.“

Montgomery lächelte leicht, seine Augen leuchteten kurz auf. „Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Intuition Sie hierhergeführt hat?“

Lex hätte jetzt fast ihre Teetasse fallen lassen. Mit so einer Frage hatte sie nicht gerechnet. „Oh …“, sagte sie, war sich nicht sicher, wie sie antworten sollte und versuchte, sich um eine klare Antwort herumzuwinden. „Nun, ich weiß nichts über Intuition. Mir ist aber aufgefallen, dass die Hausnummer dieses Geschäfts die gleiche ist wie die des Geschäfts, das mein Vater früher besaß.“

„Würden Sie sagen, dass Sie oft Ihrer Intuition folgen?“, fragte Montgomery und blickte sie scharf an.

„Ich … bin nicht sicher“, gab Lex zu. Wie hätte sie antworten sollen? Erwartete er, dass sie ja sagte und würde das seinen Eindruck positiv beeinflussen, oder würde er es vorziehen, dass sie sich auf ihre Logik verließ? Sie konnte Montgomery nicht einschätzen.

„Hm.“ Montgomery kritzelte eine weitere Notiz, kurze und scharfe Kratzer seines Stiftes auf dem Papier. „Es ist wichtig, dass Sie wissen, dass der Laden eine Menge wichtiger Kunden hat – Leute, die von überall her kommen, nur um uns zu besuchen. Wir sind auf seltene Bücher spezialisiert, sodass wir oft im Besitz der einzigen Exemplare sind, die sich nicht in Privatbesitz befinden. Wir bekommen alle Arten von Kunden hier zu sehen – Sammler, Gelehrte, Liebhaber, ja, ja. Fühlen Sie sich in der Lage, ein breites Spektrum von Personen mit unterschiedlichem Hintergrund professionell zu betreuen?

„Selbstverständlich“, sagte Lex und nickte schnell. „Damit habe ich überhaupt kein Problem.“

„Und haben Sie Erfahrung im Umgang mit Kunden, die …“ Montgomery pausierte, verzog aber sein Gesicht, als sei es ihm unbehaglich. Lex wagte eine wohlbegründete Vermutung.

„Beschwerden haben?“, schlug sie vor, da dies eine der häufigeren Fragen in einem Bewerbungsgespräch war.

„Die Welt mit anderen Augen betrachten“, schloss Montgomery und warf ihr hinter seiner Brille diesen eulenartigen Blick mit den weit aufgerissenen Augen zu, mit dem er zu reagieren schien, wenn sie etwas falsch erriet.

„Ähm“, antwortete Lex und überlegte fieberhaft, was in aller Welt er damit meinen könnte. Sie griff auf akademische Errungenschaften zurück, was wirklich alles war, was ihr dazu einfiel. „Ich habe in der Highschool Spanisch gelernt. Ich glaube, ich erinnere mich noch an genug, um ein Gespräch führen zu können. Ich kann mit kulturellen Unterschieden umgehen, und wenn nötig, kann ich mich anpassen.“

Montgomery machte in seinem Buch weitere schnelle, kratzige Notizen. Lex versuchte, sie zu lesen, aber aus diesem Winkel konnte sie nicht einmal erkennen, ob die von ihm geschriebenen Buchstaben aus dem englischen Alphabet stammten. „Ich nehme an, das bedeutet, dass Sie keine Hieroglyphen lesen können?“

„Nein“, sagte Lex überrascht. „Ich hatte wohl das Gefühl, dass ich meine Zeit am besten mit einer Sprache verbringen sollte, die nicht tot ist.“

„Kein Latein, Henochisch, Malachim? Wir führen einige Texte, die von älteren Zivilisationen reproduziert wurden“, fügte Montgomery hinzu, schüttelte den Kopf über ihren verwirrten Blick und machte weitere Notizen. „Schon gut, schon gut. Und jetzt die letzte Frage. Haben Sie irgendwelche besonderen Fähigkeiten, die Sie für diese Arbeit mitbringen?“

„Ein ausgeprägtes Verständnis des Dewey–Dezimalsystems“, sagte Lex und dachte über das nach, was sie in der Vergangenheit gelernt hatte und was ihr von Nutzen sein könnte. „Ich kenne auch eine Menge Statistiken über die Preisgestaltung von Büchern, Käuferverhalten und Verkaufsstrategien.“

Montgomery nickte, schrieb aber wiederum nichts auf. Er richtete seine Fliege mit einer lustigen kleinen Geste, dann richtete er sich auf und steckte seinen Notizblock weg. „Miss Blair“, sagte er. „Ich werde ehrlich sein. Unser Geschäft hat einen gewissen Ruf, den wir aufrechterhalten müssen. Sie sind sehr logisch und pragmatisch.“ Lex fühlte, wie ihr Herz in ihrer Brust sprang und mit 100 km pro Stunde raste, als er ihr ein Kompliment machte.

„Das mag sich vielleicht anderswo zu Ihren Gunsten auswirken, aber was wir brauchen, ist jemand mit einem offeneren Geist. Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, zu einem Vorstellungsgespräch zu kommen, aber ich fürchte, dass ich Ihnen die Stelle nicht anbieten werde.“

Lex' Herz stürzte nun direkt in ihren Magen, sie fühlte sich so enttäuscht, dass ihr fast übel wurde.

„Ich verstehe“, brachte sie mit einigen Schwierigkeiten hervor. Das schien irgendwie nicht richtig zu sein. Hatte es sich nicht so angefühlt, als sei diese Stelle perfekt für sie? Sie brauchte sowohl das Geld als auch die Erfahrung und hier waren alle in einer Position vereint – in einem Geschäft, das sich richtig anfühlte. Sie stellte sich ihren Vater vor, seine Enttäuschung, wenn er hier wäre und sie scheitern sähe. Dann auch ihre Mutter, die wirklich darauf wartete, von ihr zu hören – und erwartete, dass sie zurückkäme und um Hilfe betteln müsste. Sie konnte nicht so leicht aufgeben. „Gibt es nichts, was ich sagen kann, um Ihre Meinung zu ändern?“, fragte sie, in der Hoffnung, dass sie eine weitere Chance bekäme.

„Nein, nein, ich fürchte nicht“, sagte Montgomery. Er hatte seine Hände auf dem Schoß gefaltet, ordentlich und prüde. „Ich habe alles gehört, was ich hören musste. Es tut mir schrecklich leid. Es passt einfach nicht so gut.“

Lex fühlte sich in diesem Moment so, als könne sie nicht tiefer sinken; ihre Füße waren wie Blei, ihr Herz war so tief gesunken, dass es jeden Moment durch den Stuhl hätte fallen können, ihre Augen blinzelten hartnäckig, um jeden Hinweis darauf, wie niederschmetternd die Enttäuschung war, zurückzuhalten. Sie stand wieder am Anfang – sie musste einen anderen Weg finden, um ihren Träumen zu folgen.

Die Entscheidung war so endgültig und absolut, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als zu gehen, und plötzlich wurde in ihr der Wunsch überwältigend, genau das zu tun. Sie konnte an nichts anderes denken, als aus dem Stuhl zu springen, aus dem Laden zu rennen und ihr Auto auf dem Parkplatz zu finden, um nach Hause zu fahren.

Doch gerade als sie dies tun wollte, sprang etwas aus der Dunkelheit hinter ihrem Sessel und landete in ihrem Schoß, so plötzlich, dass sie erstarrt im Sessel sitzen blieb.




KAPITEL SIEBEN


Lex war so verängstigt, dass sie nicht einmal alarmiert aufschrie. Nach dem ersten Schreck und dem Adrenalinstoß, der ihr Herz noch schneller schlagen ließ als zuvor, fasste Lex sich wieder genug, um zu erkennen, dass das Ding, das auf sie gesprungen war, schwarz war – und pelzig – und … ihre Hand leckte?

Eine Welle der Erleichterung überrollte sie, als sie erkannte, dass die mysteriöse und furchterregende Kreatur nur eine schwarze Katze war, die sanft ihre Hand leckte und sich dann umdrehte, um sich bequem in ihrem Schoß niederzulassen, wobei sie ihren Schwanz ordentlich um sich selbst rollte.

Lex erstarrte, unsicher, was sie tun sollte. Noch vor einem Augenblick war sie entschlossen gewesen, sofort aufzustehen und von dort zu verschwinden, und jetzt, mit diesem warmen Fellbündel auf dem Schoß, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Wäre es nicht unhöflich, einfach aufzustehen und die Katze auf den Boden zu setzen? Sie würde Montgomery wahrscheinlich zu allem Überfluss noch verärgern – ganz zu schweigen davon, dass sie die Katze nicht kannte und diese sich wahrscheinlich mit ihren Krallen wehren würde.

Also tat sie nichts und blieb unbeholfen sitzen, während die Katze ihren Kopf mit einem zufriedenen Schnurren auf ihre Pfoten legte.

„Sie mag Sie“, sagte Montgomery mit überraschtem Tonfall.

Lex überlegte angestrengt, was sie dazu wohl sagen sollte. „Ist, ähm, ist das Ihre Katze?“, fragte sie, bevor sie verspätet bemerkte, dass das eine ziemlich dumme Frage war. Warum sonst sollte sie hier oben in den privaten Räumen über dem Laden sein?

„Sie lebt hier“, sagte Montgomery, was nicht wirklich eine Antwort war. Er starrte die Katze mit einem Blick völliger Verwunderung an und als er sich so weit zusammenreißen konnte, dass er aufblickte und Lex' Augen begegnete, hatte sich etwas in seinem Gesicht verändert. „Sieh an, sieh an. Ich nehme an, das ist ein gutes Zeichen. Ich denke, ich werde Ihnen eine Chance geben.“

„Wie bitte?“, platzte Lex heraus, unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

„Der Job gehört Ihnen, wenn Sie ihn wollen“, sagte Montgomery. Er zögerte und fügte hinzu: „Auf Probe selbstverständlich.“

Lex starrte ihn an und dann hinunter auf die schlafende Katze. Er gab ihr den Job, nur weil die Katze sie mochte? Das schien völlig unlogisch, doch warum sollte sie seine Entscheidung hinterfragen? Ihre Gedanken waren genauso durcheinander wie ihre Gefühle – von nervös über hoffnungsvoll bis hin zu niedergeschlagen und jetzt zu glücklich. Sie hatte die Stelle bekommen.

„Ich akzeptiere“, sagte sie sofort. Es gab keine andere Option. „Ich danke Ihnen!“

„Sollen wir dann sagen, dass Sie in zwei Tagen anfangen können?“, fragte Montgomery.

Lex nickte glücklich. „Das klingt perfekt. Danke“, sagte sie erneut und zögerte dann. Die Katze schlief immer noch fest auf ihrem Schoß, und sie hatte immer noch dasselbe Problem wie zuvor: Sie wollte sie nicht stören. „Ähm, wegen …“

Montgomery folgte ihrem Blick auf die Katze und dann sprang er auf, als er erkannte, was sie meinte. „Oh, ja, ja! Ich nehme sie, keine Sorge. Hier …“ Er trat vor und hob die Katze geschickt in einer fließenden Bewegung auf und ließ sich mit ihr wieder in seinen Sessel fallen, wobei er das leise schnurrende Bündel in seinen eigenen Schoß legte.

Lex blickte auf die Beine ihres Anzugs hinunter, die nun mit kleinen schwarzen Haaren bedeckt waren. Sie versuchte, sie so heimlich wie möglich abzuklopfen, als sie endlich aufstand, und reichte Montgomery ihre Hand. „In zwei Tagen dann“, sagte sie, froh, sich wieder bewegen zu können.

„Ja, ja“, stimmte Montgomery zu. „Vielleicht sollte ich Ihnen jetzt den Rest des Ladens zeigen, zur Vorbereitung?“

„Selbstverständlich“, sagte Lex mit einem Anflug von ehrlicher Aufregung. Sie hatte sich bereits darauf gefreut, den Rest des Ladens zu sehen, da sie ihn von Anfang an so sehr bewundert hatte.

„Sie haben also bereits die Verkaufstheke mit unseren Büchern über lokale und beliebte Themen gesehen“, sagte Montgomery und führte sie die Treppe hinunter. „Und gegenüber davon, der Versandraum. Dort bewahren wir unsere, ähm …“

„Versandmaterialien auf?“, riet Lex.

Montgomery warf ihr einen verwirrten Blick zu. „Ungeliebte Klassiker“, sagte er. „Die billigeren Bände, die ein etwas härteres Leben geführt haben, Gott segne sie. Mit diesen sollten Sie vorsichtig sein. Bei einigen von ihnen würde ich vom Lesen abraten.“

Lex nickte, als ob das vollkommen logisch wäre, und versuchte zu lächeln, als ob sie einen Scherz gemacht hätte. Sie ermahnte sich, dass sie aufhören musste, seine Sätze zu beenden, zumindest so lange, bis sie ihn ein wenig besser verstand.

Das war das zweite Mal, dass er sie davor warnte, bestimmte Bücher zu lesen; was meinte er damit? Nur, dass sie vielleicht langweilig wären? Aber es blieb keine Zeit zu fragen, denn er führte sie bereits weiter.




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